Original-„Giselle“ emanzipatorisch gewendet

Das Staatsballett hat Mats Eks „Giselle“ von 1982 wieder aufgenommen

München, 21/06/2010

Jubel, Jubel, Jubel im ausverkauften Münchner Prinzregentheater. Es war eigentlich „nur“ eine Wiederaufnahme. Aber nach zehn Jahren Ruhepause, mit lauter Debüts aus den taufrisch-jungen Reihen des Staatsballetts hat man Mats Eks moderne „Giselle“ (1982) im Grunde als echte Premiere erlebt. Am Ende flogen alle Herzen der 20jährigen Gözde Özgür zu. Spätestens beim Schlussapplaus, den der schwedische Meister bescheiden wie immer entgegennahm, konnte er sicher sein, dass sein tiefenpsychologischer Blick die richtige Giselle gewählt hatte.

Gözde Özgür ist dieses wunderbare Menschenkind, das kinderfröhlich in den Tag hineintanzt, das auf die Menschen zugeht, völlig offen, aber deshalb auch so verwundbar. Sie kennt keine Boshaftigkeit und Verhaltensregeln sind ihr fremd. So berührt sie ihn, nimmt seine Hände, zieht ihn mit sich, diesen fremden schönen Stadtmenschen – weil sie ihn sofort liebt. Und Albrecht, überrascht, überwältigt von diesem Naturwesen, fällt ein in ihr spielerisch tänzerisches Liebeswerben. Dieser Tanz und auch die späteren Zusammentreffen der beiden sind in ihren fließend verschlungenen Bewegungen – und wenn so aus junger Seele heraus getanzt wie von Özgür und ihrem Albrecht Matej Urban – Pas-de-deux-Meisterwerke.

Und noch nie zuvor, nicht bei Eks Ehefrau Anna Laguna, nicht bei Münchens Beate Vollack, war man so berührt von Eks Idee einer unmittelbaren, von keiner gesellschaftlichen Konvention gehemmten, geradezu archaischen Zuneigung. Nie auch wurde auf so unaufdringlich zarte Weise deutlich, wie gekonnt Ek die Original-„Giselle“ (von Jean Coralli und Jules Perrot) modern, ja emanzipatorisch gewendet hat: 1841 erliegt das scheue Winzermädchen dem Charme von Herzog Albrecht! Hier geht die Initiative von Giselle aus. Und Eks Bauersleute sind auch alles andere als feudale Unterwürflinge. Ihre kantig-skurrilen Tänze trotzen dem elegant hochfliegenden Gefolge von Albrechts Verlobter Bathilde (Emma Barrowman).

Was letztlich selbst den Skeptiker von gewendeten Klassikern überzeugt: hier funktioniert alles. Eks moderne Bewegungssprache, die doch sehr viel klassisches Können verlangt – Özgür tanzt da durch wie eine biegsame Gerte –, fließt ganz selbstverständlich in Adolphe Adams Originalmusik (leider vom Band). Und das 19.-Jahrhundert-Märchen wird zur realen Geschichte einer verletzten Liebenden, die im Irrenhaus endet. Dieser zweite Akt verlangt von der Protagonistin darstellerisch mehr als der zweite weiße Akt der Original-„Giselle“. Als Wilis ist Giselle eine jenseitig Entrückte. In der Ek-Version muss die Tänzerin hinter ihrem geistig verwirrten Entrücktsein doch auch noch die tiefe Verletzung, den Schmerz sichtbar machen. Und diese vertiefte Dimension wird sich Gözde Özgür sicher in Zukunft noch erarbeiten.

Für ein Debüt – und es ist ja ihre erste abendfüllende Rolle überhaupt! – war es eine großartige Interpretation. Und der Abend ein einmalig schönes Erlebnis einer sehr menschlichen Geschichte. Nicht nur Giselle verzeiht ihrem Albrecht. Auch ihr erster Freund Hilarion (Lukas Slavicky), der schon in Rachegelüst die Heugabel zückt, reicht dem einstigen, am Ende bis auf die Haut entblößten Rivalen versöhnlich eine Decke. Ein ganz großes Danke an Mats Ek und all diese exzellenten Tänzer.

24. und 26. 6., 19 Uhr 30; 20. 6., 18 Uhr; 24. 6., 10 Uhr 30: Karten 089/ 2185 1920

Kommentare

Noch keine Beiträge