Groteske Engels-Statuen

Martin Schläpfers „Programm XIV“ in Mainz

Mainz, 12/01/2004

Welcher Choreograf kreiert heute noch drei neue Stücke für einen Abend? Zwar hat Martin Schläpfer das mittlere (und wichtigste) Ballett seines neuen Dreiteilers nur um einen Satz vervollständigt, aber wieder einmal steht der Eindruck seines unerschöpflichen Einfallsreichtums in riesigen Lettern über dem Abend. Das „Programm XIV“ vereint in originell-sparsamen, wunderbar tanztauglichen Bühnenbildern von Thomas Ziegler zwei heitere und ein sehr ernstes Stück. Enrico Delamboye dirigiert im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters die drei seltenen und interessanten Werke aus Barock und Moderne (die Musik dazwischen spart Schläpfer nach wie vor aus). „Frogs and Crows“ ist zu Georg Philipp Telemanns neunteiliger Alster-Ouvertüre choreografiert, deren ländlich-idyllisch betitelte Unterabteilungen wie „Der Schäfer und Nymphen eilfertiger Abzug“ dem typischen „Nummern-Schema“ entsprechen, das Martin Schläpfer so gerne zur formalen Grundlage seiner Tanzstücke macht.

In abwechselnden Soli, Duetten oder auch Gruppen exerzieren also siebzehn Tänzer die versprengten Teile eines fröhlichen Divertissements, stets im klassischen Duktus mit gestreckten Beinen und schönen Armhaltungen, die Damen auf Spitze. Zu ihren weißen Kostümen, die dem panzerartigen Outfit der Degenfechter ähneln, tragen sie schwarze Stirnbändern, wie würdevolle Samurais sitzen einige von ihnen an dem schmalen Tisch, der sich hinten über die ganze Bühnenbreite schlängelt, über die Aktionen vor ihnen zu Gericht. Dort tut sich Erstaunliches: Tänzer schweben an Seilen von oben ein, oder die Jungs joggen Arm in Arm herein wie Revuegirls. Jörg Weinöhl tanzt das lamentierende Solo eines sich selbst bemitleidenden schwarzen Schwans, Nick Hobbs ist ein etwas tumber, vor sich hin jaulender Pan, der aber erstaunlich zierlich in ein herumbaumelndes Mikro pfeift. Mit artistischen Einlagen und anachronistischen Requisiten wird das klassische Ballett nicht direkt parodiert, sondern es sind rein choreografisch immer nur kleine komische Brüche, winzige lakonische Störfaktoren, die für eine durchgängige Ironie sorgen. Was für ein kreativer Reichtum, wenn Schläpfer für ein zwar gelungenes, aber vielleicht doch nicht in die ewige Bestenliste des Genres eingehendes Werk so verschwenderisch mit seinen Einfällen um sich werfen kann. Mit angewinkelten Füßen und nach innen geknickten Knien ändert sich die choreografische Sprache im „Violakonzert“ entschieden.

Das Ballett zur faszinierenden, dunklen Musik Alfred Schnittkes (Solist: Malte Schaefer) stammt aus dem Jahr 2002, Schläpfer hat jetzt den dritten, einen Largo-Satz vollendet. Und auf welche Weise vollendet! Nach abstrakt-verinnerlichten Duos und nebeneinander stattfindenden, von tiefem Ernst geprägten Solo-Aktionen stecken die Tänzer plötzlich in weißen, dünnen Hemden und wir sind in einem vergeistigen, abgehobenen Raum – vielleicht im Himmel, vielleicht im Irrenhaus. Zu Schnittkes sehrenden Viola-Elegien verzweifeln diese Himmelswesen still vor sich hin, verhaken sich ineinander, erstarren zu grotesken Engels-Statuen und enden schließlich auf dem Boden vor der düsteren spiegelnden Klagemauer im Hintergrund. Es ist ein rätselhaftes Werk voll düsterer Magie, das sich erst bei mehrfachem Anschauen richtig erschließen wird. Den Rausschmeißer hat Schläpfer seinem Vorbild Hans van Manen gewidmet, dessen Ästhetik prompt einmal direkt zitiert wird: „Ritirata notturna“ ist ein elegantes, amüsantes Nachspiel auf eine Boccherini-Bearbeitung von Luciano Berio. Inmitten eines gestaffelt ansteigenden Meers von flimmernden Kerzen tragen die drei Herren wie die drei Damen schwarze Abendkleider und Dutt. Als sie sich noch allesamt in Glitzer-Negligés werfen und zum weiteren Tanze die Hand reichen, ist das Stück auch schon wieder aus.

Wie schon das „Violakonzert“ lebt auch dieses kurze Ballett ganz von Martin Schläpfers frappierender Musikalität, aus dem virtuosen Spiel mit kleinsten Andeutungen und der Leichtigkeit, mit der er genau die richtigen Bewegungen zu jeder Musik findet. Flüchtige Walzer- oder Tangorhythmen schimmern als Walzer- oder Tangozitate ebenso zart in der Choreografie auf, zu Barockklängen erscheint plötzlich ein höfischer Port de bras, ein kleiner Triller in der Musik findet sich so ganz nebenbei in wackelnden Zehen wieder und im letzten Stück bricht der Überraschungs-, sprich: Lachfaktor exakt auf ein paar Buffo-Andeutungen in der Musik ins elegante Ambiente herein. Man mag das Häppchenweise von Schläpfers Balletten mit der Zeit als eintönig empfinden und einen Sinn für große Bögen oder organische Formen bei ihm vermissen, vielleicht sogar die Gabe für Drama und Handlung auf der Bühne. Aber dafür scheinen Martin Schläpfer alle Sprachen zur Verfügung zu stehen – seine choreografische Beredtsamkeit und seine Musikalität suchen unter den zeitgenössischen Tanzschöpfern ihresgleichen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern