Freude, Freaks und Fraktale

Uraufführungen von Regina van Berkel und Martin Schläpfer sowie zweimal Balanchine

Mainz, 09/03/2009

Ein ganzer Abend auf Spitze, das ist schon fast ein Ereignis im modernen Tanz. Von zwei rasanten Balanchine-Klassikern schlägt das „Programm XXIX“, das vorletzte in Martin Schläpfers Mainzer Ägide, den Bogen zu zwei Uraufführungen, zu einem wunderlich-mechanischen, ultralangsamen Bilderwerk des Hausherrn und einem mit den Geschwindigkeiten spielenden Chaos-Ballett der niederländischen Choreografin Regina van Berkel. Dirigiert wird der Abend im Großen Haus wieder von der Mainzer Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt, an deren einzigartigem Engagement für das Ballett sich sämtliche anderen Opernhäuser Deutschlands gerne ein Beispiel nehmen dürfen.

In Balanchines „Tschaikowsky Pas de deux“ betont Carolina Francisco Sorg eher die virtuosen, dynamischen Qualitäten der Ballerina als das lyrische Fließen, mit dem dieser Pas de deux zum Beispiel beim Mariinsky-Ballett getanzt wird. Bei ihr perlt und glitzert alles, eine Nuance ruhiger vielleicht bei ihren Partner Ordep Rodriguez Chacon, der aber genau wie Sorg wunderbar musikalisch und detailliert phrasiert. Balanchines bekanntester Gala-Pas-de-deux erstrahlt in genau der jungen, unbeschwerten Frühlingsfrische, die seinen Charme ausmacht, während die Stimmung beim „Tarantella Pas de deux“ schlichtweg überkocht. Marlúcia do Amaral und vor allem Bogdan Nicula brennen ein Feuerwerk ab, werfen die Beine hinters Ohr und jagen mit ihren Tamburinen durch die kräfteraubende Tour de force, als wäre es ein einziger großer Spaß. Beide springen faszinierend leicht und schnell – hier sind keine weiten, ausgreifenden Jetés gefragt, sondern rasante, kaum den Boden berührende und voll Elan wieder hochschnellende Hüpfer, Bournonville auf Speed sozusagen. Wo Schläpfers heimliche Primaballerina ihre virtuosen Talente mal so richtig funkeln lassen kann, da knallt Nicula in seinem Piraten-Outfit die rasanten Bühnenrunden mit dem lässigen Übermut eines großen Virtuosen auf die Bretter. Nanette Glushak, die beide Pas de deux so sorgfältig einstudiert hat, und der New Yorker Balanchine-Trust können glücklich sein: Genau wie beim Dortmunder Ballett wird Balanchine auch in Mainz auf einem Niveau getanzt, das man sonst nur bei den dreimal so großen Kompanien erwartet.

Als Antwort auf so viel rasende Virtuosität setzt Martin Schläpfer mit „Sinfonien“ eines seiner skurrileren Stücke dagegen. Ein „entschleunigtes“ Ballett wollte der Mainzer Ballettchef machen und dafür ist die sparsame, in wenigen, sinnschweren Tönen tropfende Musik von Walter Killmayer die perfekte Wahl. Einzelne Bewegungen erhalten hier plötzlich ungeahnte Bedeutung, weil alles so langsam, so regungslos bleibt. Wie eine Ansammlung von erstaunten russischen Matrjoschka-Puppen schauen uns die acht Tänzer an, die Frauen stecken in Dirndl-artigen Kleidern, die Männer tragen lange Röcke mit schweren Bordüren unterm nackten Oberkörper. Die mechanischen, ja manchmal wie ferngesteuert wirkenden Paare üben sich in sparsamen Exercicen vom Stile „die Damen strecken langsam ein Bein“, sie verharren in artiger Symmetrie, bis irgendwann ein fünfter Mann auftaucht und die Ausgewogenheit vernichtet. Plötzlich zwickt alle ihre Unterwäsche, plötzlich liegen sie auf dem Rücken und strecken uns die Zunge heraus, wie Soundtrack-Geräusche generieren Killmayers Töne nun skurrile Reaktionen bis zum Slapstick: auf einen lauten Klavierton fällt der „überzählige“ Tänzer wie ein Sack auf den Boden, auf einen Trommelwirbel rennt die Horde auf der Stelle, und ein Cembalo-Akkord treibt sie alle in die Flucht. Die Wasserbottiche, mit denen sie dann wiederkehren, stellen sie mit der Mechanik einer La-Ola-Welle in Zeitlupe auf den Boden, um mit einem lauten Pflatsch ihre Füße darin zu versenken und resigniert vor sich hin zu starren – während der der überzählige Tänzer fast in seinem Bottich ertrinkt. Trotz der zootierhaften Verschrecktheit, mit der die Tänzer oft ins Publikum starren, hat die Ästhetik von „Sinfonien“ etwas Stoisches, Alpenländisches, wirkt fast wie ein sehr groteskes Echo auf Heinz Spoerlis „Chäs“.

Ein helles, lichtes Ballett setzt die Niederländerin Regina van Berkel gegen die düstere Endzeitstimmung. Dichte Cluster von hellgrauen Rechtecken hängen an der Decke und verschieben sich über dem weißen Tanzboden immer wieder zu kunstvollen Skulpturen, die Projektion eines riesigen Vogelschwarms weist ebenfalls auf die Chaostheorie hin. „Memory of a Shape“ greift die fraktale Geometrie als unendliche Wiederkehr in sich verschachtelter Formen auf. Zur vier Jahre alten „Fractal Symphony“ des niederländischen Komponisten Theo Verbey schachtelt van Berkel auch ihre achtzehn Tänzer zu einem langen, bei allem chaotischen Inhalt durchstrukturierten und unglaublich abwechslungsreichen Ballett. Verbeys sechsteilige Symphonie neigt eher zur freundlichen Moderne à la Minimal Music und kommt überall ein bisschen rum: Sie kombiniert flächige Streicherklänge mit triumphierend-tonalen Bläsermelodien, setzt stark synkopierte Schlagzeugakzente à la „Sacre“ gegen meditative Xylophonpassagen oder barockes Zupfen. Berkel war Forsythe-Tänzerin zu Zeiten des Frankfurter Balletts, und dieser schnelle, zackige Stil auf klassischer Basis hat sie geprägt. Genau wie beim damaligen Forsythe sehen wir die auf 180 Grad hochgerissenen Beine, immer wieder Reste und Zitate des klassischen Duktus (als persönliche Vorliebe der Choreografin viele lange, schöne Drehungen der Männer), aber natürlich auch verschobene Schultern und Hüften oder abgeknickte Hände. Berkel choreografiert aber etwas nachdenklicher und vorsichtiger, ist nicht so bedingungslos aufs Zerlegen fixiert wie Forsythe. Faszinierend sind sowohl ihr Umgang mit der Dynamik – immer wieder wechselt die Geschwindigkeit, nacheinander und auch nebeneinander – als auch ihr Sinn für große Gruppen: da formieren sich kleine Kollektive inmitten des großen Chaos, da entstehen kurze Parallelen, manchmal frieren ganze Szenen ein und nur ein Ausschnitt tanzt weiter. Es gibt viele tolle Bilder in ihrem Ballett, wenn die Männer in weiten Sprüngen nach hinten über die Bühne fliegen oder wenn Viererketten nach vorne marschieren, wenn Igor Mamonov seine Partnerin Marlúcia do Amaral hoch über das Kollektiv hinaushebt und sie ganz langsam über dessen Köpfen kreisen lässt (wobei den Mainzer Tänzern für den ganz schnellen Forsythe-Stil doch ein wenig die Attacke fehlt). Bleibt am Ende nur die Frage, wo Regina van Berkel bis jetzt gesteckt hat – das ist zweifellos die Art von Stück, auf das all die großen Ballettkompanien gewartet haben.

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