Ein „Schwanensee“ aus der Perspektive eines Vogelhirns

Australian Dance Theatre mit „Birdbrain“

oe
Heilbronn, 17/10/2004

Kein Etikettenschwindel beim dreitägigen Gastspiel des Australian Dance Theatre in Heilbronn (leider dem einzigen in Deutschland auf ihrer derzeitigen Europa-Tournee – hierzulande wohl erst wieder zu sehen bei den Wiesbadener Maifestspielen 2005)! Denn wenn die ihre 70-Minuten-Nonstop-Produktion als „Schwanensee“ angekündigt hätten, hätten wohl einige Besucher schon kurz nach Beginn ob des ohrenbetäubenden Lärms und gnadenlosen Beats die Flucht ergriffen. So aber harrten sie erst einmal geduldig aus – wer konnte sich unter dem Titel „Birdbrain“ alias „Vogelhirn“ schon etwas vorstellen? Sicher keinen „Schwanensee“ – nicht einmal einen „Swan Lake“ von Down Under, gleich um die Ecke von den Aborigines. Fehlte eigentlich in den digitalen Klanggewittern von Speedy J. Autechre, Pan sonic, Atrax Morgue, Bask und – jawohl, Tschaikowsky, nur noch das Gedröhn eines Didgeridoo.

Denn das, was sich der Choreograf Garry Stewart, der Dramaturg David Bonney, der/die AusstatterIn (?) Gaelle Mellis, die Akustiker Jad McAdam und Luke Smiles, der Lichtdesigner Damien Cooper, der Videofilmer Tim Gruchy und der Bogenschützen-Coach John Coory ausgedacht hatten, und was die zwölf Tänzer in ihrem atemberaubenden Mix aus Danse d‘école, Contemporary, Disco, Break, Martial Arts, Hip Hop, Yoga und Free Style Flying, in ihren Trainingshosen und (zum Teil bedruckten) T-Shirts barfuß exekutierten, war nun allerdings ein bis auf seine Gene dekonstruierter „Schwanensee“. In den sie auch noch historische Zitate von den Positions-Zeichnungen Casartellis für Blasis‘ „Traité de l‘art de la danse“ über Iwanow-Petipa (mit einem geradezu grotesk kontortionistischen Rotbart und einem herrlich verwuselten Pas de quatre) eingebracht hatten – bis hin zur Ehrenliste der großen Ballerinen von Geltzer und Legnani über Pawlowa bis zu Fonteyn und Guillem (fehlte eigentlich nur noch Margaret Illmann).

Kein Vergleich mit einem unserer „Schwanensee“-Dekonstruktivisten-Spezies à la Mats Ek oder Matthew Bourne – schon deswegen nicht, weil der Chef des Australian Dance Theatre der viel einfallsreichere und fantasievollere Choreograf ist! Und wenn ich mir auch keinen dieser australischen Tanztheatralier als Ballerina oder Ballerino in einem „normalen“ „Schwanensee“ vorstellen kann, in dieser mit Explosivkraft über (ja wirklich, auch über – nämlich in der Luft) die Bühne wirbelnden Show demonstrierten sie eine wahrlich sinnverwirrende Virtuosität, ein Koordinations-Timing und eine artistische Risikobereitschaft, die, wenn schon nicht ihnen selbst, so doch uns beim bloßen Zusehen den Atem stocken ließ. Keine Möglichkeit, sich dieser elementaren tänzerischen Force majeur zu entziehen! Wie gebannt saßen die Zuschauer auf ihren Plätzen, um selbst am Ende in einem Beifalls-Urknall zu explodieren!

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