Zum dreissigsten Todestag von John Cranko

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Stuttgart, 26/06/2003

Ich erinnere mich noch gut an jenen 26. Juni 1973. Ich wohnte damals noch in Köln und hatte an jenem Morgen Besuch vom Finanzamt zwecks Steuerprüfung. Mitten während unserer schweißtreibenden Recherchen klingelte das Telefon und Hartmut Regitz teilte mir mit, dass er soeben im Radio gehört habe, dass John Cranko auf dem Heimflug von einer äußerst erfolgreichen Amerika-Tournee des Stuttgarter Balletts in Dublin Opfer eines Erstickungsanfalls geworden sei (anfangs hatte man noch an ein Herzversagen geglaubt). Die Dame vom Finanzamt packe ihre Akten, und für mich begannen ein paar der aufregendsten Stunden meines Lebens. Das Telefon stand nicht mehr still, die unmöglichsten Leute riefen an, wollten einen Kommentar von mir. Zeitungs- und Rundfunkredaktionen baten mich um ein Statement, und auch das Fernsehen war sogleich zur Stelle und beorderte mich in sein Kölner Studio, um in einer der Nachrichtensendungen einen Nachruf von mir zu bringen. Auch in den folgenden Tagen flaute die Aufregung nicht ab. Jeder spekulierte, wie es denn nun mit dem Stuttgarter Ballett weitergehen sollte.

In den „Stuttgarter Nachrichten“ appellierte Heinz-Ludwig Schneiders dringend an John Neumeier, der unmittelbar vor seinem Engagementsantritt in Hamburg stand und im Vorfeld sich viel Ärger mit der Genossenschaft eingehandelt hatte, von seinem Vertrag zurückzutreten und nach Stuttgart zurückzukehren (er absolvierte damals gerade seine letzten Tage als Ballettchef in Frankfurt), um die Leitung der Kompanie zu übernehmen. Sogar Clive Barnes in New York meldete sich zu Wort und brachte Peter Wright, John Field und Eliot Feld als mögliche Cranko-Nachfolger ins Gespräch. Keiner vermochte damals so recht an das Weiterbestehen des Stuttgarter Balletts zu glauben, und bei den Tänzern gingen sofort die verlockendsten Engagementsangebote ein – nicht zuletzt bei Birgit Keil, die überall hätte Primaballerina werden können – ein Titel, den ihr Stuttgart mit Rücksicht auf Marcia Haydée hartnäckig vorenthielt.

Nun, wir wissen, wie es weiterging – auch wenn die ersten Monate nach Crankos Tod schwierig waren und sich eine Art Direktions-Notgemeinschaft formierte, bestehend aus Glen Tetley, Marcia Haydée und Dieter Gräfe – mit Hans Peter Doll, der gerade im Vorjahr die Generalintendanz von Walter Erich Schäfer übernommen hatte, als väterlichem Protektor. Das nicht für möglich Gehaltene geschah, die Kompanie selbst hielt eisern zusammen, keiner der führenden Solisten verließ das „sinkende Schiff“, das indessen partout nicht untergehen wollte, sondern auch in stürmischer gewordener See seinen Kurs beibehielt und so seinem zweiten „Stuttgarter Ballettwunder“ entgegensteuerte (das erste hatte Clive Barnes 1969 beim New Yorker Debut der Stuttgarter ausgerufen).

Dass das Stuttgarter Ballett heute besser dasteht als je zuvor, ist das Verdienst Marcia Haydées und ihres Mitarbeiterstabs, aus dem auch Reid Anderson hervorgegangen ist, der ihr Nachfolger wurde und seit nunmehr acht Jahren die Kompanie leitet – inzwischen vom Künstlerischen Direktor zum Intendanten avanciert. Die weitere Geschichte ist bekannt und braucht hier nicht noch einmal rekapituliert zu werden. Interessant ist gleichwohl die Frage, die Mary Ellen Hunt in ihrer im Juli-Heft des amerikanischen Dance Magazine veröffentlichten Kritik über das jüngste Amerika-Gastspiel des Stuttgarter Balletts stellt – nämlich wie sich die Kompanie wohl unter Crankos Obhut weiter entwickelt hätte, in Fortsetzung der von ihm festgelegten choreografischen Leitlinien. Wobei sie offenbar an seine abendfüllenden Handlungsballette dachte (denn mit den Arbeiten der Lee, Spuck und Scholz kann sie sich nicht sonderlich befreunden).

Es ist eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Cranko wäre heute 76 – wie Béjart, Grigorowitsch und Smok. Als sicher möchte ich annehmen, dass wohl sein nächstes abendfüllendes Ballett „Tristan und Isolde“ geheißen hätte – mit Hans Werner Henze als Komponisten. Doch ob er diese Linie fortgesetzt hätte? Als Cranko 1973 starb, war die deutsche Ballettszene in einem großen Umbruch begriffen – in der Folge der politischen Ereignisse von 1968. Damals schickte sich das Tanztheater im Gefolge von Pina Bausch und Johann Kresnik gerade an, die deutschen Theater zu erobern. Wie hätte er darauf reagiert, der bereits 1972, ein Jahr bevor Bausch Chefin in Wuppertal wurde, sein Tanztheaterstück „Présence“ über Molly Bloom, Roi Ubu und Don Quixote choreografiert hatte (und der in seiner letzten Arbeit, „Spuren“, sehr zur Verstörung seiner Stuttgarter Fans, weit von seinen vertrauten choreografischen Pfaden abgewichen war)? Hätte er, mit seinen weltstädtisch-kosmopolitischen Erfahrungen und Ambitionen, es überhaupt noch weitere dreißig Jahre in der behäbigen Schwabenmetropole ausgehalten? Wäre er nach 1989 womöglich nach Berlin gegangen und hätte dort der neu aufblühenden Hauptstadt zu dem Ballettboom verholfen, den Berlin aus eigener Kraft nicht zu bewirken imstande ist? John Cranko als Ballettintendant der Deutschen Staatsoper zugleich Leiter des Deutschen Nationalballetts – eine Ikone wie Balanchine für Amerika und Ashton in England? Seien wir dankbar, dass wir ihn immerhin ein knappes Dutzend Jahre in Stuttgart gehabt haben, dass er hier die Fundamente für eine Ballettarbeit gelegt hat, die immerhin bereits dreißig Jahre lang ohne die mindesten Anzeichen von Materialermüdung oder Abnutzungserscheinungen gehalten haben.

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