Das Weiße im Auge

Die Choreografie „White“ von Rosemary Butcher feiert in der Muffathalle Premiere

München, 13/02/2003

Grenzenlose Weite, eisige Kälte. Schnee, Gletscher, Spalten. Oberflächen, die transparent und glatt wirken, die zerklüftet und geborsten sind. Arktis-Expeditionen. Die Grenzerfahrungen der Entdecker und was Manager von den Polarforschern lernen können. „Ich gebe den Tänzern Worte, dann warte ich, was passiert“, beschreibt die Choreografin Rosemary Butcher ihre Arbeitsweise. Wie wird extremes Wetter beschrieben und wie repräsentiert? Im Film, im Buch? Die Engländerin sieht zu, wie die Tänzer mit diesem Material arbeiten, welche Bilder und Bewegungen entstehen. „Ich versuche, den Schlüssel dazu zu finden und das, was ich sehe, an die Oberfläche zu bringen.“ Sie denkt konsequent vom Verständnis des Tänzers aus. So hielt sie es auch bei „White“, ihrer Produktion als Münchner „choreographer in residence“, die heute in der Muffathalle uraufgeführt wird.

Mit der Einladung an Rosemary Butcher ist dem Gespann aus Joint Adventures/Walter Heun und dem städtischen Kulturreferat ein besonderer Coup geglückt, denn die britische Künstlerin ist eine Ikone des New Dance – radikal, konsequent und unermüdlich darin, die Grenzen des Tanzes zu erweitern. Wieder und wieder nimmt sie neue Anläufe, Tanz so zu zeigen, wie sie ihn versteht: als „visual art“: „Der Tanz bleibt leicht in seiner kleinen Welt, er muss geschoben werden.“ Denn im Vergleich zur bildenden Kunst und zum Film sei der Tanz nicht auf breite Wirkung angelegt. Mit ihrer kompromisslos konzeptuellen Arbeit, deren Nähe zur bildenden Kunst und der Wahl außergewöhnlicher Aufführungsräume prägte Butcher mehrere Choreografengenerationen, darunter Russell Maliphant und Jonathan Burrows, beide den Münchnern über Aufführungen bei der „Tanzwerkstatt Europa“ bekannt. Butcher greift nicht – wie so häufig im Modern Dance – auf einen Code zurück, den sie mal so, mal so verändert; bekannte formale Strukturen interessieren sie nicht. Was entsteht, sagt sie mit dem feinen Humor und leichten Nachdruck derer, denen Rückschläge nicht fremd sind, ist originell und keine handwerkliche Variation eines bereits Bestehenden.

Rosemary Butcher selbst war die erste Studentin, die sich 1965 am Dartington College of Art in Devon für das Fach Moderner Tanz eingeschrieben hat. Damals war das College eine Oase des Neuen, abseits vom Londoner Mainstream, voll lebendiger Geschichten aus der Zeit von Bauhaus und Reformpädagogik. Mit einem Stipendium reiste Rosemary Butcher 1968 in die USA und belegte Kurse an der Martha Graham School. Aber wichtiger als die Ausbildung in Devon und die erste Amerika-Reise war ihr zweiter Aufenthalt in den USA, Anfang der siebziger Jahre, als die 22-Jährige die Künstler des Judson Dance Theatre kennen lernte: Simone Forti, Meredith Monk, Lucinda Childs, Yvonne Rainer und Steve Paxton. „Sie waren meine Helden“, erzählt Butcher, „in ihren Kursen suchte ich nach meiner Identität und dem, was mich wirklich interessiert.“ Nicht mehr länger trennte man nach tänzerischer und Alltagsbewegung, nicht mehr länger war der Tanz auf den Theaterraum beschränkt, sondern eroberte sich die Galerien, die Straßen, die Plätze und Hausdächer. Die alten Regeln galten nicht mehr, neue wurden nicht aufgestellt. Man probierte einfach aus, was ging und was nicht. Rosemary Butcher sog alles auf wie ein Schwamm. Bis zu dem Tag, als Trisha Brown im Whitney Museum „Walking on Walls“ zeigte: „Ich ging zu Fuß nach Hause und wusste, das werde ich nie mehr vergessen.“ Hier eröffnete sich nicht nur ein neuer Horizont, Rosemary Butcher erkannte auch den Weg dorthin. Und vor allem begann sie, „mich mit mir wohlzufühlen.“

Schwierig wurde es erst wieder zu Hause, in London. Wie kann man diese Radikalität weiterführen? Wie überhaupt weitergehen, wenn man als Rufer in der Wüste allein auf seine einsame Reise gehen muss? „Das ist nicht Tanz“, lautete die Antwort auf ihr Angebot. „Hier fehlt es an Körperlichkeit“, warf die Kritik Butchers Werken vor. „Aber ich glaube, es ist nur die Art, wie sonst Physikalität repräsentiert wird, dass man glaubt, bei mir gäbe es keine“, antwortet die Choreografin und Tänzerin. Sie könne nicht mit Emotionen umgehen, schrieb einmal ein britischer Kritiker. Das hat sie verletzt.

Inzwischen schlägt sie immer noch neue Wege ein, obwohl sie bereits auf die zweite Retrospektive ihrer Werke zurückblicken kann, eine international renommierte Künstlerin der Avantgarde, Ehrendoktorin der Londoner City University und Dozentin am Laban Centre. Für Außenseiter sind die Zeiten günstig, meint sie. Nicht finanziell, aber künstlerisch. Nach wie vor werden zwar zu ihrem Ärger nicht Arbeitsvorhaben unterstützt, sondern Kompanien. Darum habe sie den Vorschlag von Walter Heun auch so gerne angenommen.

Natürlich sei die Produktion ein Risiko: sehr wenig Zeit, eine fremde Stadt, fremde Tänzer, von denen sie „105 Prozent“ erwartet (aus München sind dabei Anna Holter und Anise Smith, aus London Elena Gianotti, mit der sie, so schwärmt sie, wie mit ihrem eigenen Körper arbeiten könne, und Mark Lorimer). „White“ wird sicher nicht perfekt, meint sie, aber es wäre interessant, das weiterzuentwickeln, die Ideen zu absorbieren, die von den Tänzern kamen sowie von ihrer Komponisten Cathy Lane und dem Münchner Filmemacher und Computerkünstler Martin Otter, mit dem sie das Projekt aus der Taufe hob. Alle, sagt Rosemary Butcher, haben keine Vorurteile darüber, was Tanzen ist. Ohne diese Offenheit geht es nicht.

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