Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
Kontrastreicher hätte die diesjährige Tanzwerkstatt Europa kaum beginnen können. Während die Tänzer*innen in Wim Vandekeybus‘ „Void“ in atemberaubender Geschwindigkeit umeinander wirbeln, ohne über die 100 Minuten energetisch je nachzulassen, ist das Publikum in „A BEGINNING #16161D“ von Aurora Bauzà und Pere Jou für die ersten zehn Minuten in völliger Dunkelheit erstmal auf sich allein gestellt.
Nervöses Rascheln, unterdrücktes Räuspern, das Atmen der Nachbar*innen – all das scheint im abgedunkelten schweren reiter in seiner Intensität potenziert. Dann erklingen aus allen Richtungen Stimmen. Mit Hall verstärkt, mehrstimmig übereinanderlegt und im Mix aus harmonischen und dissonanten Akkorden ist dieses Konzert im Dunkeln Genuss und Grusel zugleich. Langsam gewöhnt man sich an den völligen Sinneswandel, doch dann gibt es auch wieder etwas zu sehen: Unendlich schleichend werden schwache Lichtstreifen hochgezogen und die schemenhaften Gestalten der Sänger*innen sichtbar.
„A BEGINNING #16161D“ stammt aus der Feder des spanischen Künstlerduos Aurora Bauzà und Pere Jou, das die menschliche Stimme in den Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens stellt. Während sich Bauzà für Regie und Musik verantwortlich zeigt, erarbeitete Jou die Choreografie und steht als einer der fünf Performer*innen auf der Bühne. Choreografie ist an diesem Abend eher im übertragenen Sinne zu verstehen – v.a. bewegen sich die Lichtbalken oder die kleinen Leuchten, die die an den Handflächen der Performer*innen kleben und mit denen sie entrückt-schemenhafte Gestalten und Bilder kreieren können. Und diese Lichtbilder, gepaart mit den sehr sakral anmutenden Choralgesängen, schaffen v.a. vor dem inneren Auge des Publikums ein Gefühl von Bewegung, von Tanz.
Erst am Ende sind die Gesichter der Performer*innen richtig zu erkennen. Dem rotierenden Lichtsteifen folgend, kreisen sie als homogene Reihe um eine imaginäre Mittelachse, die Hände fast flehend nach vorne gestreckt. Wonach sie sich ausstrecken ist unklar und hier verbirgt sich vielleicht der einzige kleine Knackpunkt an diesem sehr konsequenten Abend, der hocheffektvolle und poetische Bilder aufwirft: in manchen Momenten ist er doch sehr kirchlich-sakral, ein das Setting dekonstruierender Moment bleibt aus.
Teile eines Getriebes
Was für ein Glück, dass das Münchner Publikum in diesem Jahr Jefta van Dinther gleich zweimal zu sehen bekommt! Nach dem viele Dimensionen sprengenden, immersiven „AUSLAND“, das während des International DANCE Festival München das Haus der Kunst bespielte, kam der Stammgast bei der Tanzwerkstatt Europa nun zurück in die Muffathalle. „REMACHINE“ ist in gewissem Sinne eine logische Konsequenz van Dinthers jüngerer Werke, eine Bühnenadaption mit „klassischerer“ Tanzdramaturgie dessen, was der schwedisch-niederländische Choreograf mit seinem Team zuvor in Form installativer Durational Shows geschaffen hat.
„REMACHINE“ braucht nicht mal eine Minute, um das Publikum in van Dinthers düster-atmosphärische Welten, in denen immer eine Portion existentialistische Dringlichkeit lodert, zu entführen. Die Performer*innen sitzen versetzt auf der sich schleichend drehenden und den ganzen Bühnenraum ausfüllenden Scheibe und stimmen Anna von Hausswolffs „Ugly and Vengeful“ an. Erst sanft und einzeln, allmählich mehrstimmig und intensiver erklingen die Zeilen „I’m restless / I’m older / I’m heavy / Like a Stone“.
Rastlos ist auch die Drehscheibe, die ab diesem Moment nicht mehr stehenbleibt, sondern sogar beschleunigt – ein unaufhaltsames mechanisches Getriebe aus menschlichen Körpern und Technik, Stimme und Klanglandschaften. Wie mechanisch gesteuerte Löwen schieben sich die Performer*innen auf Fäusten und Knien über die Scheibe, lassen sich als leblose Gestalten an der Scheibe hängend über den Bühnenboden schleifen, um schließlich einer evolutionären Entwicklung folgend ins aufrechte Stehen und Gehen zu kommen.
Hier kommt Jefta van Dinthers einzigartige Bewegungssprache besonders zur Geltung – dieses breitbeinige langsame Schreiten, in dem die Gliedmaßen unabhängig bewegbare Einzelelemente eines großen Ganzen bilden. Verstärkt durch die klobigen Schuhe kreiert diese Mischung aus kreaturhafter und mechanischer Anmutung das Bild von Astronaut*innen, die eine neue Welt erforschen. In Momenten wie diesen brillieren v.a. van Dinthers langjährige Performer*innen Leah Marojeviç und Roger Sala Reyner, die diese Bewegungsästhetik bis zur Perfektion gemeistert haben und deren rauchig bzw. metallisch durchdringende Stimmen unter Mark und Bein gehen.
Es gibt so Vieles, was an diesem Abend nicht nur die Gedanken, sondern auch die Emotionen kitzelt. Und das ist die große Stärke, die van Dinthers Arbeiten durchzieht – der Mut zum geschmackvollen Pathos, zur tiefgreifenden Erforschung von Sinnlichkeit und Emotion und das feine Gespür für immersive Atmosphäre. Jedes Gefühl von Zeitlichkeit verschwindet an diesem Abend – und so ist der Moment, wenn die Drehscheibe nach 60 Minuten zum Stehen kommt und die Gesänge des Ensembles abklingen, wie das Aufwachen aus einem Traum.
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