8. Die Rekonstruktion von „La Bayadère“ durch Sergej Wicharew

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

Nachdem diese Rekonstruktion von Marius Petipas „La Bayadère“ am 28.12.2002 im Festspielhaus in Baden-Baden erstmals in Deutschland zu sehen war (siehe z.B. tanznetz, koeglerjournal), entstand in Zusammenarbeit mit Maria Ratanowa aus St. Petersburg folgender Bericht: Bei Sergej Wicharews erstem Rekonstruktions-Projekt, dem „Dornröschen“ im Jahr 1999, ging es um die Rückeroberung der imperialen Dimension dieses Werkes, das, sich auf das Versaille Ludwigs XIV berufend, mit großen Szenen den St. Petersburger Zaren-Hof in seiner subtilen Kultiviertheit spiegelte. 

Balletthistorisch ging es gar ums Ganze: Denn wer hätte vorher sagen können, ob eine Petipa-Vorstellung ohne Kürzungen, aber in den originalen Bühnenbildern und Kostümen aus dem späten 19. Jahrhundert heute noch Gefallen finden würde oder womöglich den Mythos der St. Petersburger Ballettklassik, der ja an die Ära Petipa geknüpft ist, erschüttern könnte? In dieser Hinsicht war die Wiederherstellung der alten „Bayaderka“ nach Wicharews Erfolg mit „Dornröschen“ weniger brisant. Dennoch muss man der Baden-Badener Festspielhaus-Leitung Dank sagen, dass sie diese ungewöhnliche Produktion - mit drei Pausen, viereinhalb Stunden lang, bisher nur ein Mal in St. Petersburg und sonst nur in New York und Paris gezeigt - für ihre alljährliche Mariinsky-Show gebucht hat. So konnte man nämlich hier zu Lande aus eigener Anschauung verstehen, warum dieses relativ frühe Petipa-Werk von 1877 zur Komposition von Ludwig Minkus, die im Gegensatz zu den Tschaikowsky-Balletten musikalischer Spitzenqualität entbehrt, seit seiner Entstehung ein spektakulärer Erfolg war.

Worin liegt der Unterschied zwischen dieser Rekonstruktion und den geläufigen „La-Bayadère“-Vorstellungen, die ebenfalls das Etikett „nach Petipa“ für sich beanspruchen? Sowohl Natalia Makarowa (1980 für das ABT, nach vielen anderen Inszenierungen zuletzt für das Hamburg Ballett) als auch Rudolf Nurejew (1992 für die Pariser Opéra, dem Vladimir Malakhov in Wien und jüngst in Berlin folgte), stützten sich auf die 1941 von Wachtang Tschabukiani und Vladimir Ponomarev für das Kirov-Ballett geschaffene Fassung. 

Jetzt hat Sergej Wicharew als erster die Annäherung an das Originalwerk Petipas versucht, indem er auf die Stepanow-Notation der Fassung von 1900 zurückgriff. Diese ist aus dem Besitz Nikolai Sergejews (1876-1951), der am Mariinsky-Theater für Notation und Einstudierung der Petipa-Ballette verantwortlich war, aber 1918 in den Westen emigrierte, in die Theater-Sammlung der Harvard-Universitäts-Bibliothek (USA) gelangt. Während „La Bayadère“ im sowjetischen Russland schrittweise zu einem stilistischen Mosaik choreografischer Fragmente verschiedener Provenienzen geworden war - von Petipa zu Tschabukiani, Ponomarev und Nikolai Zublovsky - also einer Art „Mixture at it´s Best“, wurde der Tanz durch Wicharews Rückgriff auf diese Notation wieder in den Zusammenhang mit der Zeit gestellt, in die er gehört. 

Der Entwicklung, dass die Handlung von „La Bayadère“ trotz großartiger Interpreten immer mehr zum Hintergrund für Virtuosität wurde, wirken jetzt nicht nur die wieder vollständig aufbereiteten Pantomimen entgegen. Besonders die Rekonstruktion des 4. Akts, der in der Not des russischen Bürgerkriegs während der 20er Jahre verlorengegangen und seitdem fast zu einer Legende geworden war, gibt dem Drama wieder sein schlüssiges Ende und wertet die Bedeutung der Handlung auf.

Was ist damit für „La Bayadère“ konkret gewonnen worden? Wären am Anfang und Ende die religiösen Symbole des Buddhismus nicht sichtbar (wie z. B. in Paris), vergäße man die religiöse Dimension. So aber ist Nikija nicht einfach eine Frau, die sich verliebt hat und betrogen wird, sondern Tempeltänzerin. Solor erblickt sie erstmals, wie sie mit ihrer Gitarre in einem Fenster sitzt. Das verleiht ihrem Charakter eine zusätzliche Ebene. Indem sie ihr Solo auf dem Götterfest des 2. Aktes mit ihrem Instrument tanzt, wird sie zur Künstlerin und somit über alle anderen teilnehmenden Personen herausgehoben. 

Bezeichnend für die rekonstruierte Fassung ist auch, dass der Tanz des Goldenen Idols – das virtuose Solo, das der berühmte Kirov-Tänzer Nikolai Zublovski 1948 für sich selbst kreiert hat, darin nicht enthalten war. Denn wenn im 20. Jahrhundert hinzugekommene Tricks gestrichen werden, bedeutet das zugunsten stilistischer Stimmigkeit den Verzicht auf eine Demonstration tänzerischer Virtuosität. Andererseits blieben Solors Entrée und die Coda im „Königreich der Schatten“, die Tschabukiani 1941 choreografiert hatte, unangetastet. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Man will wohl erstens weiterhin den Geschmack heutiger Zuschauer treffen und zweitens die tänzerischen Ambitionen der Mariinski-Stars befriedigen.

So hörte man denn auch im ersten Baden-Badener Pausengespräch des Publikums: „Nur schade, dass sie so wenig tanzen!“ Was man sieht, ist eine lange Dominanz pantomimischer Aktionen. Die Fakire (in der Münchner Fassung vollständig gestrichenen), an ihrer Spitze Magdawaja, geschmeidig getanzt und gespielt von Igor Petrov, leisten viel kleinteilige Vermittlungsarbeit, wie überhaupt das historische Bühnenbild von Michail Schischliannikow zumindest im Festspielhaus den befremdlichen Eindruck von Kleinräumigkeit hervorrief. Die auf dem „Fest des Feuers“ tanzenden Bayadèren reißen auch noch nicht so richtig mit, und selbst Nikijas Pas de deux mit Solor bleibt pantomimisch geprägt. Aber all diese Pantomimen, in deren Zentrum zunächst der Groß-Brahmane (leidenschaftlich-dämonisch: Vladimir Ponomarew) steht, sind sehr expressiv und theatralisch, werden in ihrer breiten Erzählung von den Darstellern mit souverän-kraftvoller Präsenz ausgeführt und zeitigen bezaubernde Augenblicke wie das Lächeln Nikijas, nachdem Magdawaja ihr Solors Botschaft zugeflüstert hat. Kaum befreundet man sich mit dem Schauspiel, wird man von der frühen Pause überrascht. Und vergegenwärtigt man sich, was bisher eigentlich passiert ist: Es hat sich immerhin eine ganz fremde Lebenswelt – in aller Gemächlichkeit – vor unseren Augen aufgetan.

Auch der 2. Akt, beginnend im Palast des Radscha Dugmanta (recht nonchalant: Pjotr Stasiunas), wirkte zunächst vom Raum her kleinflächig und von der tänzerischen Ausführung eher dokumentarisch, also blutleer. Doch bald kam das epische Bewegungstheater wieder zum Tragen: Gamzatti reflektiert pantomimisch, was sie zwischen dem Radscha und dem Groß-Brahmanen belauscht hat; Nikija kommt und bezeugt selbstbewusst die Liebe zwischen ihr und Solor; Gamzatti beschwört sie, auf ihn zu verzichten und setzt sie herab; dann folgt Nikijas Mordversuch und Gamzattis Schwur, dass Nikija dafür mit ihrem Leben zahlen soll. 

Aus all dem ergeben sich starke Szenen eines Ballettdramas, eines „Grand spectacles“. Die anschließende Prozession zu Ehren des Gottes Badrinath bietet ein großes Defilee von Mönchen, dem Groß-Brahmanen, Jägern, dem Goldenen Idol, Gefolgsleuten, Bayadèren etc. – in den Kostümen von Jewgenij Ponomarew, nach Originalzeichnungen aus der Sammlung der staatlichen Theaterbibliothek St. Petersburg rekonstruiert. Sie müssen wohl historisch sein, denkt man angesichts ihres holzschnittartigen Zuschnitts und der hart gegeneinander gesetzten Farben, denn heute würde man das nicht mehr so machen. Doch im weiteren Verlauf entdeckt das Auge die ästhetische Geschlossenheit dieser Bilder, die Tatjana Noginowa (Kostüme) und Michail Schischliannikow (Bühnenbild) dem Vergessen entrissen haben, und findet daran immer mehr Gefallen. 

Dann wird auch getanzt, und damit ist diese Inszenierung, die auf heutige Sehgewohnheiten bis dahin so fremd wirkt, über den Berg. Denn wie getanzt wurde, das war über alle Einwände erhaben: poetische Anmut und stilistische Authentizität der 20 Tänzerinnen des Corps, absolut präzises Placement der vier brillanten Bajadèren und ein Hindu-Tanz, in dem mit sicherem Theaterinstinkt das Schlagen der Trommel nur angedeutet wurde. Schließlich Nikijas Auftritt mit ihrer Gitarre (eigentlich einer Wjna bzw. Vina): Daria Pawlenko spielte, wie sie, elegisch auf den an Gamzattis Seite verharrenden Solor blickend, in der Fortsetzung ihres Tanzes schwankte, und machte, als man ihr den Korb mit Blumen schenkt, feinnervig ihren frohen Stimmungsumschwung nachfühlbar. Was für ein Kontrast zu ihrem unmittelbar folgenden Tod! 

Im 3. Akt erst - der Held hat sich melancholisch in seine Gemächer zurückgezogen - sieht man den ersten hohen Sprung von Solor, den Andrian Fadejew, ohne bis dahin sein großartiges tänzerisches Potential zu zeigen, so klar und ruhig verkörperte. Dann hängt Solor seinen trüben Gedanken gleich wieder pantomimisch nach. Magdawaja bringt zu seiner Aufheiterung einen Schlangenbeschwörer, doch dessen Flötenspiel, das witzig ein Schlänglein aus dem Korb aufsteigen lässt, bewirkt nichts. Als Gamzatti - diese schöne Episode fehlt in den auf Tschabukiani zurückgehenden Fassungen - nach ihrem traurig entschlummerten Bräutigam sieht, kann sie ihn zwar zum Tanz bewegen, doch im Augenblick des sich anbahnenden Kusses erscheint ihm das Bild Nikijas, und fortan ist er desorientiert. Gamzatti bleibt nichts, als, streng die Hochzeit ankündigend, zu gehen. Über Solor aber senkt sich der (hier nicht vom Opium geförderte) Schlaf, altmodisch schön versinnbildlicht durch einen sich senkenden Gaze-Vorhang. In seinem Traum erinnert Nikija ihn an die Treue, die er ihr geschworen hat, ehe ihm - das berühmte „Königreich der Schatten“! - die Bayadèren in den langen weißen Tutus der Petipa-Zeit erscheinen. 

In dem nun anhebenden Grand pas classique der Schatten erwies sich auch in Baden-Baden die Gediegenheit des weiblichen Corps de Ballett des Mariinsky-Theaters, das in einer sonst wohl nirgends erreichbaren stilistischen Geschlossenheit den akademischen Tanz erblühen ließ. Dazu kamen solistische Glanzleistungen in den drei Schatten-Variationen von Irina Golub, Natalia Sologub und Xenia Ostreikowskaja und - endlich - auch die Virtuosität von Fadejew mit einer weit fliegenden, sicher kontrollierten Manege sowie im Schleiertanz die bezaubernde Kunst Pawlenkos mit ruhigen Balancen und einem Höchstgrad der Verinnerlichung reiner Form, die sie mit Persönlichkeit und Geist substantiell füllte.

Der Leser wird gemerkt haben, dass diese über vierstündige Aufführung in ihrem tänzerischen Reiz kontinuierlich anzieht. Und noch steht der verlorene 4. Akt bevor, dessen Wichtigkeit für die Gesamthandlung durch diese Rekonstruktion erwiesen wird! Vor der tiefen Flucht eines Gewölbes tanzen die Lotusblumen im Festraum des Palastes, der von einer großen Buddha-Statue dominiert wird, ehe der große Pas de deux Gamzattis mit Solor folgt, der in Paris und München dem Tanz Nikijas im 2. Akt vorangestellt ist, ursprünglich aber zur Hochzeit gehört. In diesem Pas d´action tanzt Nikijas Schatten verzweifelt zwischen beiden, ehe das hochvirtuose Finale - in Baden-Baden blendend realisiert durch Andrian Fadejew und Elvira Tarasowa als Gamzatti - erreicht wird. 

So bleibt Nikijas übersinnliche Gestalt bis zum Ende präsent. Als der Radscha die Trauung zwischen Solor und seiner Tochter vollzieht, stürzt die Gewölbeflucht in sich zusammen, doch als es wieder heller wird, ist der Ausblick frei und - Schluss-Apotheose! - Solor steht mit Nikija über den Trümmern. 

Mit diesem 4. Akt bewahrheitet sich durch das Erdbeben, was der Groß-Brahmane dem Radscha vorhergesagt hat: Dass die Götter einen Angriff auf Nikija und ihre Rechte bestrafen würden. Deshalb hat der Radscha von ihrer Ermordung Abstand genommen. Also kommt die Giftschlange von Gamzatti, die folglich in der Schluss-Apotheose - dies im Gegensatz zum Münchner Rekonstruktionsversuch - nichts verloren hat. Alles greift nun ineinander. Die Rekonstruktion der originalen Choreografie Petipas hat deren Zugehörigkeit zum Historismus des 19. Jahrhunderts wieder herstellt, den akademischen Tanz werkgerecht motiviert und stilistisch schlüssig präsentiert. Damit gewinnt diese Produktion nicht nur als exemplarisches Werk von Petipa die Relevanz der Authentizität, sondern führt uns auch vor Augen, wie das Ballettdrama „La Bayadère“ das Interesse des Publikums seiner Zeit gefunden hat: Neben dem Glanz der Bühnenbilder und der Virtuosität der Tänze hat dafür wohl vor allem das Fesselnde der Handlung den Ausschlag gegeben. Gleichzeitig traf dieses Ballett durch seine Verlegung in das exotische Ambiente Indiens ein modisches Bedürfnis seiner Zeit. Dieses große Petipa-Erbe, das seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts fast zu einer Legende geworden war, begegnet uns jetzt wieder - dank des Enthusiasmus hochbegabter Russen, die sich seiner Rekonstruktion gewidmet haben - in seiner originalen Länge, seiner originalen Handlung und seiner richtigen Zusammensetzung. 

So, in seiner ursprünglichen Gestalt, beeindruckt „La Bayadère“ heute noch. Andere Kompanien, die ein virtuoses Spektakel von bequemer Dauer brauchen, müssen m. E. dem Mariinsky-Theater das ausführliche Dokumentieren nicht nachtun. Aber wenn sie weiterhin kürzen oder erfindend ergänzen wollen, können sie jetzt auf eine Quelle zurückgreifen, die wieder in ihrem ursprünglichen Reichtum fließt. Für die Münchner Fassung z. B., die als Deutsche Erstaufführung hier zu Lande den „Bayadèren“-Boom dieser Spielzeit mit ausgelöst hat, spricht vieles. Sie geht dramaturgisch stimmig und flott über die Bühne, bietet eine herrliche Symphonie von Farben und lichten Materialien, bewahrt durchgängig, wie in einem Mandala spielend, die buddhistisch-exotische Prägung und erahnt mit einem kurzen Bild sogar den 4. Akt mit seinem Erdbeben. Das Mariinsky-Theater aber ist seinem kulturellen Erbe in besonderem Maß verpflichtet, und deshalb musste es bei der für 2002 geplanten Neuinszenierung zu den eigenen Wurzeln zurückkehren.

Die Rekonstruktion alter Partituren in voller Länge gehört zu den Dingen, die das genuine Interesse des General-Intendanten des Hauses, des Stardirigenten Valery Gergiev, entzündet haben. Mit der Aufbereitung alter Produktionen (sowohl Opern als auch Balletten), die zur Geschichte des Mariinsky-Theaters gehören, zielt Gergiev mit Hilfe seines Ballettchefs Makhar Vaziev nicht nur auf den künstlerischen Wert der jeweiligen Stücke, sondern auf die Restauration des imperialen Ruhmes des Mariinsky-Theaters und St. Petersburgs überhaupt. Das macht natürlich besonders in diesem Jahr 2003 Sinn, in dem man das 300-jährige Jubiläum der Stadtgründung feiert. Weit entfernt davon, diese großen Zusammenhänge beurteilen zu wollen, ist unser Schluss, dass St. Petersburg mit Produktionen wie der jetzt gezeigten Rekonstruktion seine Rolle als Maßstab für Übernahmen der Werke Petipas durch andere Häuser zurückgewinnt, denn diese ist vielschichtiger, sinnvoller und feiner als alle früheren Muster.

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