3. „La Bayadère“

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

Das Festival, das zum dritten Mal vom 21. Februar bis zum 2. März 2003 stattfand und zehn Vorstellungen aneinanderreihte, stand im Vorfeld des 300-jährigen Stadtjubiläums, hatte aber keinen sichtbaren Bezug darauf. Es war noch wichtiger und glänzender als das vorhergehende, denn der Status der Ballettkompanie des Mariinsky-Theaters hat sich gegenüber dem letzten Jahr weiter verbessert. Das sieht man daran, dass noch mehr Gäste der Einladung folgten.

Das St. Petersburger Ensemble, seine Solisten wie auch die internationalen Stars vom New York City Ballet, der Pariser Opéra, dem Londoner Royal Ballet und dem Moskauer Bolschoi unterzogen sich einer freiwilligen Prüfung. An deren Ende konnte man – passend zum Festivalmotto: „The Theatre of Open Doors“ –sagen, dass es in einem langen Wettbewerb, bei dem die drei führenden klassischen Schulen anwesend waren, nur Sieger gab.

Es begann mit „La Bayadère“ in der Rekonstruktion der im Jahr 1900 geschaffenen zweiten Fassung von Marius Petipa durch Sergej Wicharew, die im vorigen Jahr in St. Petersburg gar nicht gut angekommen war, als sie schlecht vorbereitet ein einziges Mal auf die Bühne geworfen worden war. Jetzt wurde sie gefeiert, nachdem sie schon in New York, Paris und Baden-Baden ein großer Erfolg war. Im Mariinsky-Theater konnte man nun gleich zwei Aufführungen von Petipas Klassiker über das Schicksal der Tempeltänzerin sehen und vergleichen. Beiden gemeinsam war, dass dieses Gesamtkunstwerk auf der Bühne seines Ursprungs eine wesentlich bessere optische Wirkung hatte als im Festspielhaus Baden-Baden, wo der Rezensent allerdings weit hinten saß.

Hier nun bezauberten die Kostüme (rekonstruiert von Tatjana Noginowa) und Bühnenbilder (rekonstruiert von Michail Schischliannikow) von damals. Schon das Eröffnungsbild suggerierte ein Gefühl, als ob man selber von dieser Lichtung mit dem Buddha nicht weit entfernt wäre: Der Djampe-Tanz der Tempelmädchen, der tänzerische Groß-Brahmane, die spannende Aktion des heimlichen Beobachters Solor ... das Ganze wirkte wie eine Einheit, ein Ritual. Wer geübt ist, sich stilisierten Kunstwelten zu überlassen, mag wohl ein „So könnte es gewesen sein!“ dabei empfinden. Dann schmiegt sich unglaublich musikalisch Nikijas Auftritt im Zusammenspiel mit all den anderen ein, und durchgängig bleibt die Magie der Pantomime, erhöht endlich durch den ersten Pas de deux, am ersten Abend phantastisch getanzt von Diana Vishneva und Andrian Fadejew. Jeder der beiden Charaktere offenbarte sich darin ebenso wie beide sich als Paar. Und dann lässt Jäger Solor einen riesigen Tiger hereintragen, der aussieht wie der Hauptgewinn aus einer Jahrmarktsbude! Auch das gehört zur Mariinsky-Ästhetik, man schmunzelt, sieht den Zorn des Groß-Brahmanen und folgt wieder dem großartigen Drama. Denn die Pantomimen sind in der Ausführung aller Akteure durch keinerlei Vorbehalte getrübt und durch sichere Beherrschung der großen Form zu hoher Intensität gesteigert.

Auch das Bild des 2. Aktes beeindruckt mit seiner monumentalen Architektur, die durch die schräge Flucht nach hinten und die lichte Binnenzeichnung aufgelockert ist. Wenn der Radscha seine Tochter Gamzatti als Verlobte vorstellt, evoziert die Musik detaillierte Responsionen in den Gesten, so dass das Geschehen wie aus einem Guss seine ganze Kraft entfaltet. Das gilt auch für die Pantomime zwischen dem Radscha und dem Groß-Brahmanen und der sich bis zum Mordversuch steigernden Dramatik der Begegnung von Gamzatti und Nikija, durch etliche Tuschs effektvoll auf den Punkt gebracht. Es folgt der schmetternde Auftakt zum großen Defilee, in dem jeder Schritt der zahlreichen Beteiligten ein Statement ist und auch der Tiger seinen Platz hat. Welch ein Fest verschiedener, sinnvoll aufeinanderfolgender Tänze! Dann kommt Nikija ... und hier soll die Nachzeichnung des „indischen“ Märchens enden. –

Am ersten Abend sah man eine Diana Vishneva, die Luft unter ihre Sprünge packte und mit einer sinnlichen Brillanz tanzte, die selbst zum darstellerischen Effekt wurde. An ihrer Seite war Andrian Fadejew ein bewusst dezenter Solor von durchgängiger, hochkultivierter Präsenz, der in seinen spät angesetzten Tanz-Herausforderungen auch als vornehmer Stilist und Virtuose überzeugte. Elvira Tarasowa als Gamzatti verlieh ihrer Figur eine feine psychologische Zeichnung, tänzerisch souverän und glaubhaft agierend.

Ganz anders die Besetzung am zweiten Abend: Während Vishneva den letzten Akt „wie eine Giselle“ (so formulierte es treffend die russische Kritikerin Maria Ratanowa) tanzte, die aus einer anderen Welt zurückkehrt, um Rache zu nehmen, und eigentlich auch vorher schon hauptsächlich das Wunder ihrer selbst -– das allerdings imponierend! -– zelebrierte, nahm Daria Pawlenko weit mehr dramaturgische Rücksichten, indem sie als kluge Schauspielerin mit starken, echten Emotionen beispielsweise die geistige Dimension von Nikijas Gottesbezug mittanzte und damit deren Unangreifbarkeit deutlich machte. Nach Nikijas Mordversuch an Gamzatti spielte sie auch, dass diese nun ihren Untergang nah weiß. Durch all dies baute sie eine subtile Spannung auf und trug als große Ballerina das vorzügliche Ensemble, von dem sich Vishneva doch eher separierte.

Als Solor warteten an diesem zweiten Abend alle auf den Super-Star des Moskauer Bolschoi, Nikolai Tsiskaridse, der mich im Jahr davor als Goldener Sklave in „Scheherezade“ völlig fasziniert hatte. Aber es scheint besser zu sein, ihn nur in einem kurzen Stück zu sehen! In der langen „Bayadère“ dagegen wurde sein schauspielerisches Agieren zur Katastrophe, je länger er kleinteilig erzählend und taktierend den altmodischen Manierismus exekutierte und durch seine weichlich-feminine Art alles verdarb, was angesichts seiner überragenden Virtuosität als Tänzer möglich schien. Seine hochspektakuläre Manege und einige rasante Sprünge blieben für mich Lichtblicke in einem Tal des Leidens, das grobe Claqueure noch vertieften.

Jekatarina Osmolkina, deren Gamzatti im Moment von Nikijas Mordversuch sichtbar die Oberhand gewann, präsentierte sich dagegen als virtuose und anmutige Tänzerin.
Unvergesslich als ein unbewegter Moment seiner bis zur rasenden Verzweiflung getriebenen Pantomime bleiben die glühenden, erstorbenen Augen des von Vladimir Ponomarew verkörperten Groß-Brahmanen, wenn er auf das Defilee blickt. Doch unser letzter Blick soll, stellvertretend für das gesamte Ensemble, das diese Aufführungen zu so reichen, bildkräftigen Ereignissen machte, den kleinen Waganowa-Mädchen gelten. Sie tanzten zwar mit einer eisern ins Gesicht geschmiedeten Maske des Lächelns, aber zugleich atmeten die kleinen, ballerinenhaft gezüchteten Körper Musikalität und sprachen bei aller erstaunlichen Präzision in ihrem lockeren Schwung von der Freude am Tanzen.

(Zur Architektur der neuen „alten La Bayadère“ siehe den Artikel „Die Rekonstruktion von „La Bayadère“ durch Sergej Wicharew“).

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