Ende des Tanzes

Das neue Forsythe-Stück „Decreation“ beim Frankfurter Ballett

Frankfurt, 27/04/2003

Laut Besetzungszettel ist William Forsythe zwar immer noch Choreograf, aber seine Tänzer heißen inzwischen „Darsteller“ - völlig zurecht, im neuen Stück des Frankfurter Ballettchefs haben viele von ihnen mehr zu sprechen als zu tanzen. „Decreation“, also „Ent-Schöpfung“, heißt das am Sonntag im TAT uraufgeführte Werk von etwas über einer Stunde Dauer. Gesprochen wird natürlich in Englisch, der offiziellen Sprache des modernen deutschen Tanzes; scheinbar sind es Zitate aus der Oper „Decreation“ der kanadischen Schriftstellerin und Professorin Anne Carson (die Forsythe auch schon zu „Kammer/Kammer“ inspirierte), aber ein Programmheft oder ähnliche Erläuterungen gibt es nicht. Viele Dialogfetzen kehren im Lauf der Aufführung wieder, manchmal hängt sich der Abend in einer Endlosschleife auf und kaut fünf Minuten lang auf einem Satz herum. Was gesprochen wird, sind die dreifach hypothetischen, hochgestylten Gedanken, die sich eine postmoderne Gelehrte so zum Thema Beziehung macht: „Was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass ich möchte, dass du eine andere liebst?“. Es geht um das private, ja banale Thema Eifersucht - fast eine Enttäuschung beim hochphilosophischen Titel des Abends.

Ein einsamer Synthesizer steuert hin und wieder Töne bei, ein Kameramann projiziert Live-Aufnahmen auf ein schmales Rednerpult. Den Rest der Geräuschkulisse liefern die Tänzer: Sie quietschen wie Mickymaus, knallen ihre Stühle auf den Boden, irgendwann singt einer schmalzig-romantisch: „I really love you“, endlos. Ein Mädchen schiebt Männerhände auf ihren Hintern, eine schwarzberußte Tischfläsche wird von einer sich darauf wälzenden Tänzerin blankgewischt. Packend sind allein die wenigen theatralischen Momente, wenn das Chaos auf der Bühne wie ein Heulen aus tiefster Nacht bis zur Schmerzgrenze anschwillt. Rein handwerklich ist die Performance perfekt gemacht: Nahtlos greifen Sprache, Video, Projektion, Musik, Computerverzerrung, Gesang, Licht und Requisiten ineinander. Ach ja, und auch Tanz. Die Körpersprache, mit der Forsythe die Texte unterlegt, ist eine der fratzenhaften Verzerrung, der Entmenschlichung, des außer Kontrolle geratenen Körpers, mit einem Wort die der Behinderung - wie im Irrenhaus zupfen Forsythes Darsteller in spastischen Zuckungen an ihren Kleidern, sie ringen mit Sprachfehlern, schlagen auf ihre eigenen Hände ein oder stoßen unartikuliertes Jammern aus.

Vielleicht war es Forsythes Ziel, die verlorene Beherrschung über den Körper als exaktes Gegenbild zur vollkommenen Kontrolle des Tanzes zu zeigen. Wo seine Bewegungssprache früher radikal die Körperteile der Tänzer isolierte, da vereinzelt er sie jetzt per Video. Früher ließ Forsythe den Fuß im geometrischen Winkel abknicken, anstatt ihn schön gestreckt zu halten, jetzt verklumpen die Extremitäten seiner Tänzer wie im Starrkrampf. Als Steigerung und als letzte Provokation bliebe danach wahrscheinlich nur noch das Einfrieren aller Bewegung, der völlige Stillstand. Der Frankfurter Ballettchef ist auf seinem radikalen Weg am Ende des Tanzes angekommen - folgerichtig wechselt er in andere Disziplinen. Beeindruckender als die jeweiligen Ergebnisse ist vielleicht die ruhige und zielsichere Konsequenz, mit der Forsythe unbeeindruckt von äußeren Ereignissen diesen Weg immer weiter verfolgt - auch wenn ihm kaum einer mehr folgen kann.

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