Cranko-Brittens „Pagodenprinz“

beim Ballet du Rhin

oe
Straßburg, 20/01/2002

Fünfundvierzig Jahre nach seiner Londoner Uraufführung beim Royal Ballet, 43 Jahre nach seiner deutschen Erstaufführung beim Stuttgarter Ballett, harrt John Crankos und Benjamin Brittens dreiaktig-abendfüllender „Pagodenprinz“ noch immer seines theatralischen Erweckers. Denn als der hatte sich Cranko weder in London noch in Stuttgart (und auch nicht bei seiner Übernahme durch das Ballett der Mailänder Scala) erwiesen. Und auch die folgenden Produktionen von Alan Carter in München, Wazlaw Orlikowsky in Basel und Wien und Oleg Winogradow in Leningrad hatten sich nicht länger im Repertoire gehalten – selbst Kenneth MacMillan hatte mit seiner Neueinstudierung 1989 beim Royal Ballet nicht sonderlich reüssiert.

Wer gehofft hatte, in diesem Jahr von Crankos 75. Geburtstag den „Pagodenprinzen“ endlich als legitimes Repertoirestück rehabilitiert zu sehen, muss sich geschlagen geben: die französische Erstaufführung durch das Ballet du Rhin am 17. Januar in Straßburg, heute in ihrer vierten Vorstellung (eine weitere in Straßburg, drei Termine Anfang Februar in Mülhausen), erwies sich als Flop erster Güte – man hofft, dass es nicht noch schlimmer kommt, denn dies ist eindeutig die bisher negativste Balletterfahrung der Spielzeit 2001/02.

Dabei war in Straßburg an nichts gespart worden. Am Dirigentenpult des Orchestre Philharmonique de Strasbourg dessen Chef, der renommierte Jan Latham-Koenig höchstpersönlich (wann hat in Stuttgart ein Generalmusikdirektor des Staatsorchesters eine Ballettpremiere dirigiert – und dazu noch eine Nachmittagswiederholungsvorstellung?). Die Ausstattung von Jérôme Kaplan ungemein aufwendig, phantasievoll und farbenprächtig: ein Fantasy-China, so opulent, dass es für das „Land des Lächelns“ und „The King and I“ gleich mitgereicht hätte. Die Choreografie vom Straßburger Ballettchef Bertrand d'At, Jahrgang 1957, Mudra-Schüler von Béjart, als Einstudierer von dessen Balletten auch verschiedentlich in Deutschland tätig, seit 1997 „á la tête du Ballet de Opéra national du Rhin“ – renommiert als Choreograf der Straßburger Produktionen von Prokofjews „Romeo und Julia“ (1990) und „Schwanensee“ (1998).

Im Programmheft die üblichen Verheißungen: angedeutet der autobiografische Bezug zu Britten und seinen päderastischen, nie realisierten Inklinationen, die prekären Knaben-Mann-Relationen als Generalthemen seiner Opern („Peter Grimes“, „Billy Budd“, „Albert Herring“, „Turn of the Screw“, „Tod in Venedig“ ...), die Initiationsriten und -prüfungen eines pubertierenden Jünglings. Davon nichts auf der Bühne.

Stattdessen das bekannte Cranko-Medley von Märchenmotiven zwischen „Aschenbrödel“ und „La Belle e la Bête“, mit einer Prise „König Lear“ und „Turandot“. Im Übrigen wie gehabt: ein trotteliger Thron-Usurpator, die beiden Prinzessinnen, die liebliche und unschuldsvolle Blanche-Rose und die bösartige Belle-Epine. Der bisherige Salamander-Prinz als Drachen-Ungeheuer, der der armen Belle-Epine zu Hilfe kommt, von ihr durch einen Kuss zu seiner wahren Gestalt erlöst wird und am Schluss Blanche-Rose zu ihrer Happy-End-Apotheosis geleitet (der trottelige Usurpator ist vom Prinzen besiegt worden und stimmt am Schluss in das Corps der Jubel-Chinesen ein).

Monsieur d´At halte ich für einen Schritt-Arrangeur, aber nicht für einen Choreografen – einen Routinier, der seinen Katalog zur Verfügung hat, bald klassisch-akademisch, dann grotesk, dann à la Chine , zur Abwechslung auch mal à la Kabuki oder Noh, einen Revue-Routinier ohne jegliches kreatives Talent. Bedauerlich die Tänzer, die einem solchem Routinier ausgeliefert sind. Und keine Gewerkschaft kommt ihnen zu Hilfe, um gegen solchen choreografischen Dilettantismus zu protestieren. Einzige Tänzerin, die ich von diesem Verdikt ausnehmen möchte: Sybile Obré als Belle-Epine mit Beinen wie Giftspritzen. Den übrigen Tänzern des Ballet du Rhin mein aufrichtiges Beileid, dass sie ihre Potenz einem derartig amateurhaft-provinziellen Unternehmen zur Verfügung zu stellen haben, das allen Verächtern des Balletts und seiner Zeitbezogenheit neue Munition liefert!

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