Pas de Huit aus „Der Nussknacker“ von John Cranko, Tanz: SchülerInnen der John Cranko Schule: Katharina Buck, Alice McArthur, Noa Shoda, Kaela Tapper, Adrien Hohenberg, Leon Metelsky, Joshua Nunamker, Sergii Zharikov

In memoriam John Cranko

Ein Gala-Abend für den Vater des Stuttgarter Ballettwunders

Anlässlich des 50. Todestages des großen Choreografen erwies das Stuttgarter Ballett seinem Begründer die Ehre – mit einer bewegenden Reise durch seinen künstlerischen Werdegang

Stuttgart, 02/07/2023

Er starb vor 50 Jahren, am 26. Juni 1973. Ganz plötzlich und völlig unerwartet auf dem Rückflug von New York nach Stuttgart. Viel zu früh. Gerade noch war das Stuttgarter Ballettwunder erneut in der Met gefeiert worden, mitsamt seinem Chef, der das alles in den zurückliegenden elfeinhalb Jahren ermöglicht hatte. Der Verlust war unermesslich, das Ensemble in Schockstarre, die Lücke riesig. Es schien, als könne sie kaum je wieder gefüllt werden. Und doch ist das gelungen. Das Stuttgarter Ballett hat kaum etwas von seiner Strahlkraft verloren. Immer noch zählt es zu den führenden Kompanien der Welt, auch wenn der Spirit der Cranko-Zeit so nie wiedergekehrt ist. Alles hat eben seine Zeit.

Und doch: Wenn man nach Stuttgart in die Württembergischen Staatstheater kommt, in die Probenräume in diesem altehrwürdigen, inzwischen dringend renovierungsbedürftigen Gemäuer, wenn man im Zuschauerraum sitzt und eine Ballettvorstellung sieht, dann scheint es so, als schwebe Crankos Geist immer noch über allem. Er schaut zu von irgendeiner Ebene des Seins, mit seinen blauen Augen, die so tief in einen Menschen schauen und ihn in seinen Fähigkeiten erkennen konnten wie kaum jemand sonst. Mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand. John Cranko. Unvergessen. Unvergesslich.

Wie sehr er die Ballettwelt der vergangenen 60 Jahre geprägt hat, wurde am 30. Juni in dieser Gala überdeutlich, die das Stuttgarter Ballett ihm zu Ehren anlässlich seines 50. Todestages gegeben hat. Mit seinem Stil, das individuell Menschliche im Tanz sichtbar zu machen, hat er das Ballett neu erfunden. Es ist die zwingende Schlichtheit und Schönheit seiner Bewegungssprache, mit der er mitten ins Herz trifft – vorausgesetzt, die Tänzer*innen geben sich dieser Aufgabe komplett hin und sind sie selbst. Denn genau das hat er ihnen immer abverlangt: nichts vorzuspielen, nichts zu mimen. Nur zu sein. Kaum etwas erscheint heute schwieriger. Und doch hat Cranko damit die Essenz der Kunst, gerade im Tanz, hervorgeholt. Hat er sie der Ballettwelt infundiert. Oberflächlichkeit, technische Perfektion allein, waren nie seine Sache. Er kämpfte immer um Authentizität. Um Ehrlichkeit. Wahrhaftigkeit. Gnadenlos. Und oft auch erbarmungslos mit einer nicht wenige vor den Kopf stoßenden Offenheit. Und doch, wenn er erkannte, dass es gelang, diese Selbstentäußerung herzustellen, wenn Tänzer*innen sich ganz und gar nackt machten, sich ungeschützt und verletzlich zeigten, verströmte er eine unendliche, grenzenlose Liebe. Es ist vor allem dieses Erbe einer 150-prozentigen Authentizität im Tanz, um das es zu ringen gilt – gestern ebenso wie heute und morgen.

Welche kreativen Glanzstücke dabei herauskamen, zeigte sich an diesem Abend. Ob das eine kleine Preziose ist wie „Hommage à Bolshoi“, mit der er dem klassischen Ballett auf seine Weise die Reverenz erwies. Oder seine zeitlose Version von „Romeo und Julia“. Die unvergessliche Kampfszene in „Der Widerspenstigen Zähmung“. Der raffiniert ausgeklügelte Pas de Huit aus dem „Nussknacker“. Der umwerfende Witz im Pas de Trois aus „Pineapple Poll“ oder im Pas de Deux für Moondog und Bootface aus „The Lady and the Fool“. Der mit allerlei Schwierigkeiten gespickte, humorige Pas de Quatre „Salade“. Der berühmte Traum-Pas de Deux aus „Onegin“, wohl einer der schönsten Liebes-Pas de Deux, die die Ballettliteratur kennt. Das bewegende Solo von Lenski vor dem Duell mit Onegin. Sie alle zeigen die Kunst dieses Choreografen, menschliche Gefühle in Bewegung umzusetzen. Er konnte das wie kaum ein zweiter, und so nimmt es nicht Wunder, dass aus diesem Schoß einer geradezu überbordenden Schaffenskraft auch eine ganze Reihe großer Choreografen geboren wurde. Der moderne Tanz heute steht auf den Schultern von John Cranko.

Nirgendwo wird das augenfälliger als gerade in den ganz schlichten, auf das Wesentliche reduzierten Stücken wie „Opus 1“, das innerhalb von elf Minuten das ganze menschliche Leben in seiner Essenz spiegelt – so rein, so pur. Ebenso in „Initialen R.B.M.E.“, „Aus Holbergs Zeit“, „Brouillards“ und „Legende“ – allesamt zeitlose Kreationen, die grundlegende Fragen des Menschseins bearbeiten. Und alle, wirklich alle kommen immer wieder auf das Wesentliche zurück: die Liebe. Wie eben auch die Liebe John Crankos Schaffen immer wieder ausgezeichnet hat. Die Liebe zum Tanz, zu den Tänzerinnen und Tänzern. Die Liebe zum Leben, zum Genuss, zur Leidenschaft. Die Liebe zu den Menschen und zum Menschsein an sich, auch wenn er selbst daran nicht nur einmal fast zerbrochen wäre. Und vielleicht hat gerade seine innere Einsamkeit erst ermöglicht, dass er den Gefühlen so auf den Grund gehen konnte, dass er sie wirklich in all ihren Höhen und Tiefen ausloten und in Bewegung transferieren konnte. Darin hat er sich verzehrt und der Welt des Tanzes alles gegeben, dessen er fähig war.

Das zeigte sich ganz besonders am Schluss der Gala, einem Höhepunkt, der das Publikum besonders bewegte: Man hatte das letzte Drittel aus „Spuren“ rekonstruiert, das Cranko auf das Adagio der unvollendeten 10. Sinfonie von Gustav Mahler choreografiert hatte. Einer Musik, die von einer besonderen Zwiespältigkeit gekennzeichnet ist, wie Cranko selbst einmal sagte (Zitat aus dem Programmheft): „Wienerische Üppigkeit, liebliche Weisen, die sinnlichen Streichinstrumente mit ihrer herrlichen Melodie – und dann plötzlich, innerhalb von ein paar Takten, der Umschwung zu der schrecklichsten Qual, die man je gehört hat, und schließlich der Höhepunkt der Sinfonie: der Schmerzensschrei.“ Er muss sich selbst in dieser Musik wiedergefunden haben. Und er benutzte sie als Fanal gegen autoritäre Herrschaft und Unterdrückung jeder Art.

Es war Crankos letztes Werk, das in Stuttgart bei der Uraufführung am 7. April 1973 allerdings nicht sonderlich gut ankam. An diesem Ballettabend („Spuren“ wurde zusammen mit anderen Stücken gezeigt) wurde er zum ersten Mal ausgebuht, was ihn tief getroffen haben muss. Mit „Spuren“ war er seiner Zeit weit voraus, indem er ein menschliches Schicksal thematisierte, das man in ähnlicher Form in Deutschland nur zu gut kannte, aber nichts mehr davon wissen wollte – in den 1970er Jahren bekamen Jugendliche und junge Erwachsene nur ausweichende Antworten von ihren Eltern, wenn sie wissen wollten, wie diese sich während der Nazizeit verhalten hatten. Man wollte das alles vergessen. Bloß nicht daran rühren.

Cranko legte mit diesem Stück aber nicht nur einen Finger, sondern seine ganze Hand in die Wunde. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die Krieg, Folter und Lagern entflohen ist und nun mühsam versucht, die Reste ihres Lebens zusammenzuklauben und sich neu zurechtzufinden. Ihr zur Seite ein Mann als „die Vergangenheit“, der ihr noch einmal die Schrecken plastisch vor Augen führt, und ein anderer als „die Gegenwart“, zu dem sie sich immer wieder rettet, und mit dem sie am Schluss langsam einem großen türartigen Viereck aus Licht entgegengeht. Denn die Hoffnung an sich, die Hoffnung auf eine lichtvolle Zukunft bleibt das Wichtigste, wenn es darum geht, den Gespenstern der Vergangenheit die Macht zu entziehen.

„Spuren“ ist ein Stück, das in seiner Aktualität geradezu zwingend in die heutige Zeit gehört, dessen Choreografie immer noch frisch und aktuell erscheint. Bühnenbild und Kostüme – schon damals von Jürgen Rose entworfen – sind noch erhalten und fügen sich weiterhin kongenial dazu ein. Sie mussten nur stellenweise (zum Beispiel bei der Beleuchtung, bei den Möbeln) ersetzt oder an die heutigen Gegebenheiten angepasst werden. Elisa Badenes, so verriet Jürgen Rose im Gespräch, trug zum Beispiel noch dasselbe weiße Kleid, das schon Marcia Haydée bei der Uraufführung 1973 an hatte. Es wäre weit mehr als nur wünschenswert, es ist geradezu eine zwingende Notwendigkeit, dass das Stuttgarter Ballett dieses wichtige Cranko-Vermächtnis vollständig rekonstruiert und wieder in sein Repertoire aufnimmt.

Bleibt noch zu würdigen, wie sich die ganze Kompanie an diesem Abend die Seele aus dem Leib getanzt hat – jeder und jede einzelne für sich, jede*r in bewundernswerter Eleganz. Einige seien hier doch noch besonders hervorgehoben. Da ist zum einen Ciro Ernesto Mansilla, der von einem Tag auf den anderen den schwierigen Part des Petruchio in „Der Widerspenstigen Zähmung“ für einen Kollegen übernommen hat. Und das mit so viel Verve, so viel Sprungkraft und Dynamik, dass man sich unwillkürlich an Richard Cragun erinnert fühlte, der diese Rolle geprägt hat. Grandios! Da ist Elisa Badenes, die sowohl in „Hommage à Bolshoi“ wie als Tatjana in „Onegin“ und vor allem als Frau in „Spuren“ eine ganz besondere Wandlungsfähigkeit gezeigt hat, ganz zu schweigen von ihrer blitzsauberen Technik. Da ist Friedemann Vogel, der im Zenit seiner Karriere und Tanzkunst steht und jeden Part mit bestechender Eleganz und seinem ganzen Sein erfüllt.

Erwähnt werden sollen aber auch die 120 Kinder und Jugendlichen der John Cranko Schule, die den Abend mit Etüden und danach zusammen mit dem Ensemble mit einem Défilée eröffneten – exakt, präzise, elegant, freudestrahlend. John Cranko, dem neben der Kompanie die Schule immer ein besonderes Anliegen war (Zwei Drittel des Ensembles rekrutieren sich heute daraus!), hätte seine helle Freude daran gehabt. Noch dazu, weil sie alle da waren, die die große Zeit des Stuttgarter Balletts geprägt haben: Marcia Haydée, Birgit Keil, Egon Madsen. Nur Richard Cragun fehlte – aber auch er war ganz sicher aus anderen Welten mit dabei.

 

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