Bewundernd und wahrscheinlich ahnungslos

Das Cloud Gate Theatre mit „Moon Water“ von Lin Hwai-min

Ludwigsburg, 15/05/2002

So ganz werden wir die Gefühlswelt der Chinesen wohl nie für uns entschlüsseln können, die unendliche Geduld dieser Menschen, ihren Glauben an Kraft und Wirkung der Symbole und ihren oft bis ins Äußerste verfeinerten Sinn für arrangierte Schönheit. Das gilt selbstverständlich auch für ihren Tanz. Zum Glück haben wir aber den Choreografen Lin Hwai-min, der sich in seinen, offenkundig vor allem für Tourneen durch den Westen konzipierten Werken immer wieder als ein sehr geschickter Anwalt unseres Sehens und Verstehens erweist. Das hat sich beim nun zweiten Auftritt von Lins inzwischen international mit höchster Verehrung betrachteten Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan im Ludwigsburger Forum erneut bestätigt.

Das Stück „Moon Water“ aus dem Jahre 1998 gründet auf der chinesischen Erkenntnis, dass Blumen im Spiegel und der Mond im Wasser Illusionen seien. Es geht in ihm also um die Gegensätze zwischen Realität und Schein, zwischen Mann und Frau, der Gruppe und dem Einzelnen, dem Schnellen und dem Langsamen, kurz gesagt um Yin und Yang. Aber es geht auch um den wenigstens in der Kunst teilweise überwundenen Gegensatz zwischen Osten und Westen. Lin stellt nämlich seiner Choreografie, die sich allmählich aus dem traditionellen Tai-Chi entwickelt, neun Sätze aus Bachs Suiten für Violoncello solo anfangs entgegen und verleibt sie später sozusagen seinem Tanz ein.

Die dunkle Bühne wird von weißen, nicht geschlossenen Kreisen auf dem Boden beherrscht, in der Höhe hängt ein Stück Spiegel. Der Tänzer Wu Chun-hsien exerziert allein für sich eine sublime, weiche Version des Tai-Chi (Schattenboxen), sehr langsam und gleitend, die einnmal für wenige Sekunden von schnellem Armdrehen unterbrochen wird. Später wird seine Kollegin Li Ya-wen hinzutreten und sich ihm behutsam in gleicher Manier nähern. Noch später gesellt sich zu ihnen die Gruppe – nach und nach werden alle denkbaren Konstellationen durchgespielt.

Alles geschieht in äußerst gemessenem Tempo, nur in einem Satz stellt sich die langsam agierende Gruppe einem gewissermaßen allegro tanzenden Paar entgegen. Kaum merklich wandelt sich das artifizielle Tai-Chi zu beinahe modernem Tanz und wieder zurück. Man ist wie benebelt von dem meditativen Geschehen, diesem Aufheben zeitlicher Dimensionen, das die fast mehr als perfekten Chinesen, denen auch nicht der kleinste Wackler unterläuft, wirklich erlebbar machen. Sie wirken wie von sanftem Wind bewegte Wälder, kunstvoll verschlungene Hecken, ihre Zehen spreizen sich, sie wiegen sich, als seien sie Pflanzen im Wasser.

Gegen Ende fließt tatsächlich richtiges Wasser auf die Bühne, in deren Hintergrund ein riesiger Spiegel erscheint. Nun hat der Tänzermond die ihm zugehörige Illusion erreicht. Feine Wassertropfen sprühen durchs Licht, die weißen, fliegenden Seidenhosen der Damen und Herren werden schwer und transparent – nach und nach verlassen sie mit unendlicher Langsamkeit die Bühne, während die einleitende Sarabande aus der Suite Nr. 5 erneut erklingt und den Kreis schließt, dessen Entstehen wir bewundernd und wahrscheinlich ahnungslos verfolgt haben. Welche Mirakel mögen in Chinesen entstehen, wenn sie solcherlei erleben? Wir jedenfalls sind ehrfurchtsvoll verblüfft. Das reicht nun aber auch wieder für ein paar Jahre.

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