Christoph Marthaler mit Schuberts „Schöner Müllerin“

im Schauspielhaus

oe
Zürich, 05/04/2002

Was ist das nun, diese „Schöne Müllerin“ von Franz Schubert im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses? Kein Ballett jedenfalls, aber auch kein Tanztheater – und sicher keine Alternative zum „Dreimädelhaus“ (obgleich von den zehn Beteiligten drei Damen sind). Auf dem Besetzungszettel heißt es lediglich – Regie: Christoph Marthaler, Bühne/Kostüme: Anna Viebrock. Die Darsteller sind Schauspieler und Musiker, die auch singen – da hatte ich zunächst meine Skrupel, denn bei Schuberts „Schöner Müllerin“ handelt sich's ja um eine Ikone der Liedgesangskunst. Gleichwohl: wie nie zuvor wähnte ich mich im Theater der Seele Schuberts so nahe wie in dieser pausenlosen 135-Minuten-Produktion – ganz gewiss nicht bei den verschiedenen tänzerischen Interpretationen von van Dyk über van Manen und Forsythe bis zu den jüngsten „Winterreisen“ von Kurz und Neumeier.

Ganz schön und gut, aber was hat diese Zürcher „Müllerin“ mit dem Tanz zu tun? Nichts und alles! Keine Frage, Marthaler ist ein Regisseur, der Schubert liebt – ein Regisseur auch, dessen Fantasie überbordet von Bildern, wenn er Schubert hört. Der Text dieses Liederzyklus von Wilhelm Müller liefert ihm nur die Stichworte. Was er inszeniert, ist die musikalische Seele dieser Lieder, theatralisiert in Bewegungsbildern. Dabei spielen die Kostüme von Viebrock eine wichtige Rolle, denn sie siedeln die Darsteller im Volksmilieu an, also nicht in der aristokratischen Gesellschaft.

Wie Marthaler seine Schauspieler agieren lässt, was er ihnen an Motionen zumutet ist ungewöhnlich – jenseits aller kodifizierten Bewegungsvokabularien. Und so balancieren sie, krauchen sie, wälzen sie sich, springen sie, laufen sie kopfüber und wie siamesische Zwillinge, verbergen sie sich (etwa in einem Bettenberg), tänzeln sie (eine Darstellerin auf dem Flügel, die sich offenbar wie Fanny Elssler vorkommt), drücken sie sich an geheimnisvollen Wänden entlang (die sich öffnen und Geheimkabinette freigeben, aus denen einmal eine Gruppe von nackten Männer zum Vorschein kommt) und zwei Dienstmädel, die offenbar gerade aus einer Vorstellung von Donizettis „Regimentstochter“ heimgekehrt sind, führen einen Pas de deux der Flintenweiber vor.

Und immer ist da um sie diese abgrundtiefe Einsamkeit, die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, dieses Verlangen nach Freundschaft, die sich in die Fantasie, in den Traum flüchten. So agieren sie das Outcoming der Schubert‘schen Seele, indem sie mit der Musik Schuberts eins werden. Ein lange nachhallender Theaterabend! Er sollte solchen anti-musikalischen Choreografen wie Wherlock und Godani zwangsverordnet werden.

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