Geh nach Leipzig, da ist Raum, da geht’s ab!

Ein Interview mit Irina Pauls und Ronald Schubert vom Leipziger Tanztheater

Leipzig, 25/01/2011

Bei der Rückkehr nach Leipzig enthusiastisch gefeiert, hat Irina Pauls nach drei Jahren den Job als künstlerischer Kopf des Leipziger Tanztheaters (LTT) abgegeben und das Label „!mehrTanz“ gegründet. Sebastian Göschel sprach mit der Choreografin über Entwicklung, Qualität und Chancen von Tanz in Mitteldeutschland – und mit LTT-Geschäftsführer Ronald Schubert über die Zukunft eines der ältesten Tanztheater Deutschlands.

Irina, deine neue Produktion „Signal to Noise“ hatte gerade Premiere. Im Gegensatz zu den vorherigen Arbeiten ist es ein Solostück zwischen Tanz und Installation. Warum diese neue Ausrichtung?

Irina Pauls: Für mich ist „Signal to Noise“ eine wegweisende Produktion. Es ist ein Start in eine neue Richtung meiner künstlerischen Entwicklung. Es ist das klare Bekenntnis, mit diesen Mischformen aufzuhören.

Was meinst du mit Mischformen?

Irina Pauls: Damit meine ich, in einer Produktion mit Amateuren und professionellen Tänzern zu arbeiten. Das ist für mich im Moment keine Herausforderung mehr. Ich habe das drei Jahre ausprobiert und bin bis zu einem interessanten Punkt gekommen. Aber es inspiriert mich nicht mehr.

Nachdem du 2007 bei deiner Rückkehr nach Leipzig medial als verlorene Tochter gefeiert wurdest, hört man nun als Randnotiz, du hättest das LTT aufgegeben und ein eigenes Label gegründet. Hast du hingeschmissen?

Irina Pauls: Keinesfalls. Ich stehe nach wie vor zu dem Konzept, das wir im LTT entwickelt haben, in dem wir versuchen, Tanz mehrspurig zu denken. Wenn ich arbeite, ist es das unbedingte Wollen, dass Tanz in Leipzig existiert – das ist mit kulturpolitischer Arbeit verbunden. Das andere bin ich als Künstlerin und als solche will ich mich weiterentwickeln. Nicht mehr mit den Amateuren zu arbeiten, hat mit meiner künstlerischen Entwicklung zu tun, aber ich bleibe dem LTT treu und mache auch im Vorstand weiter.

Ronald, wie hast du die Jahre erlebt, seit Irina zurückgekommen ist?

Ronald Schubert: Es war damals eine sehr bewusste Entscheidung, Irina zu holen. Wir haben sofort angefangen, ein Zukunftsmodell zu basteln. Wir merken, dass das Publikum für den Tanz wegbricht. Vermeintlich kümmern sich die Akteure nicht mehr richtig um ihre Zuschauer. Es wird künstlerisch in alle möglichen Richtungen gegangen und die Gefahr dabei ist, dass Sehgewohnheiten nicht mehr entwickelt werden. Das Konzept zielt darauf ab, alles Vorhandene zu verknüpfen: Wie kann man die Spitze des Eisberges mit der breiten Basis verbinden? Die Ideen aus diesem Modell sind nun in die Initiative „!mehrTanz“ eingeflossen.

Die Entwicklung zu „!mehrTanz“ ist also kein Scheitern, sondern folgerichtig?

Ronald Schubert: Unbedingt, die Ideen sind ja am LTT entstanden! Aber es gab durchaus Schwierigkeiten in der Identifikation und Schärfe des Profils. Das LTT ist bekannt für seine Arbeit im Kinder- und Jugendbereich und seine Amateur-Kompanie. Die Lösung dafür ist die Gründung der neuen Initiative aus der Stärke des LTT heraus.

Irina, als du wieder nach Leipzig kamst, hast du die Profi-Kompanie DC Dilligence gegründet – nimmst du die Tänzer mit?

Irina Pauls: Ja, aber ich gebe den Namen auf. Auch das ist nur eine folgerichtige Entwicklung, denn es ist nie eine feste Gruppe geworden, da wir die Tänzer immer nur für bestimmte Projekte holen konnten. Die Gruppe gibt es nun nicht mehr, sondern eine Identifikation über meinen Namen. Mein Name ist die Arbeit, die ich mache; mit welchen Leuten ich zusammenkomme, das formuliert das jeweilige künstlerische Projekt.

Du hast gesagt, für dich sei es wichtig, künstlerisch autonom zu arbeiten – das Label gibt es also nur für dich?

Irina Pauls: Nein, es ist ganz anders gedacht. Wir wollen „!mehrTanz“, weil wir kooperieren wollen und ohne Netzwerk ist die Entwicklung des Tanzes einfach nicht möglich. Für mich ist ein Punkt sehr wichtig: Ich bin grundsätzlich dagegen, dass wir uns alle an einen Tisch setzen und das zehnte Pamphlet herausgeben, was wir denn jetzt miteinander machen wollen. Für mich ist das kein Weg, sondern: Es gibt Leute, die starke Ideen haben, es gibt das LTT und jetzt finden wir Leute, die sich einbringen.

Das heißt, unter dem Label wird es verschiedene Choreografen geben und der Name Pauls muss nicht auftauchen?

Irina Pauls: Richtig. Wir haben in der Initiative vier Linien: „!mehrTanz schaffen“, also die Eigen- und Co-Produktionen, „!mehrTanz wissen“ als Schnittstelle der Tanzvermittlung, „!mehrTanz in der Kommune“ und „!mehrTanz im Haus“. Für jeden dieser Bereiche gibt es eine Person, die alles koordiniert. Für „!mehrTanz schaffen“ bin ich das.

Andere künstlerische Handschriften werden also zugelassen?

Irina Pauls: Unbedingt! Diese Art der Befruchtung in der Sache, die nichts mit Abgrenzung zu tun hat, ist eine Quantität, die auch Qualität bringt. Dieser Ansatz ist die Grundlage für „!mehrTanz“. Man kann eben nur Leute holen, die sich gegenseitig zulassen wollen.

Wie geht es mit dem LTT unter der neuen künstlerischen Leitung von Alessio Trevisani weiter?

Ronald Schubert: Das LTT ist eine Struktur, die es seit über 40 Jahren gibt. Deshalb wird natürlich die bisherige Arbeit weitergemacht. Andere Choreografen zuzulassen ist ja schon passiert mit dem Format „Compagnie & Friends“. Diese Öffnungen wollen wir gerne weiterführen. Auch in der Junior-Compagnie mit über 320 Kindern und Jugendlichen wird ja künstlerisch gearbeitet, auch dort gibt es Kooperationen, auch dort ist genug Entwicklungspotential. Auf der Ideenliste steht zum Beispiel ein Kindertanzfestival.

Dafür braucht Ihr ein neues Domizil!

Ronald Schubert: Dazu gibt es den Bereich Tanzhaus. Das LTT sucht schon sehr lange eine Arbeitsstätte, die dem Bedarf angemessen ist. Das ist im Moment nicht der Fall. Man kann sagen, dass die Bestrebungen, ein Haus zu finden, nun quasi doppelt laufen: für „!mehrTanz“ und für das LTT.

Wie würdest du die Tanzszene in Leipzig und Mitteldeutschland beurteilen? Was sind die Stärken, was die Schwächen?

Irina Pauls: Ich bin überzeugt davon, dass Leipzig eine Tanzstadt ist, aber keine Strahlung in die Region hat und aus der Region nichts zurückkommt. In meinen Augen ist alles abgeschnitten, vereinzelt. Das hängt mit der Entwicklung der freien Szene generell zusammen. Ich bin der Meinung, dass wir nach wie vor unser Ostpaket mittragen, da der freie Tanz in der DDR keine Entwicklungsmöglichkeiten hatte, weil es nur die Hochkultur gab. Dass wir es bis heute kulturpolitisch nicht vermögen, in unserem Teil Deutschlands der freien Szene diese Aufmerksamkeit, diese Wichtigkeit in der Darstellung auch politisch zu verschaffen, und dass uns deshalb die Szene so auseinanderkracht und so unspezifisch ist.

Darum denke ich, wenn wir versuchen, für den zeitgenössischen Tanz mehr Impulse zu setzen, auch im Kontakt zu Dresden, wenn wir Vernetzungen versuchen, gibt das einen Input für die gesamte freie Szene. Ich schätze Mitteldeutschland so ein, dass es viel Platz gibt, viele Orte, die nicht besetzt sind, im Gegensatz zu den alten Bundesländern, wo so viel so besetzt ist. Hier ist das Potenzial für die Zukunft. Aber diese Arbeit braucht mehr Aufmerksamkeit, das heißt, es muss eine Öffnung geben, auch für Leute, die anders denken. Das ist auch mein Problem in der Region, dass ich das Gefühl habe, die meisten ziehen ihre Linie durch und die Öffnung ist nicht groß genug.

Also ein Bekenntnis zu Leipzig?

Irina Pauls: Ja! Das ist immer das, was keiner spürt: Je mehr man sich engagiert, je mehr man kritisiert, je mehr hängt man ja an einer Sache.

Wie schätzt du den Status quo in Sachen Tanz ein? Was können wir in Leipzig sehen?

Irina Pauls: Schade ist, dass wir zu wenig Heike Hennig sehen. Ich finde, sie macht eine sehr gute Arbeit und wir sehen generell zu wenig, weil wir keine zeitgenössischen professionellen Tänzer bei uns haben. Das hängt nicht an den Choreografen, sondern am Umfeld, da ja der zeitgenössische Tanz davon lebt, was du im Moment entwickelst, gibst und nimmst. Ein Beispiel: Es gibt nicht einen tanzenden Mann in der Szene.

Ronald, du hast früher am LTT getanzt – wie wäre es mit einem Comeback?

Ronald Schubert: Auf jeden Fall (lacht). Aber es stimmt: Man sieht zu wenig hier in der Region, da ist vieles weggebrochen. Es gibt Initiativen, aber die sind begrenzt. Das liegt zum einen an den Off-Theaterhäusern, wo es nur gewisse Kapazitäten gibt – finanziell und räumlich. Das liegt zum anderen daran, dass die Leute nicht hier sind. Deshalb gibt es auch den Bereich „!mehrtanz in der Kommune“. Da geht es darum, eine Überlebensbasis für Künstler zu schaffen, indem man ihnen die Möglichkeiten gibt, neben der künstlerischen Arbeit diese Kunstform mit Schülern, Senioren und anderen Gruppen in die Kommune hineinzutragen. Der Bedarf dafür ist sehr groß. In der DDR gab es diese freie Szene nur sehr bedingt und im Tanz so gut wie gar nicht – und in den letzten 20 Jahren ist es offenbar nicht gelungen, das zu kommunizieren, zum Publikum und ebenso in der Politik.

Zum Schluss: Statt Petitionen und Larmoyanz, wie sieht eure Utopie einer Tanzszene in Mitteldeutschland aus?

Irina Pauls: Ich sehe ein wunderschönes Gebäude von alter Industriearchitektur, wo Künstler zusammenkommen und es tanzinspiriert Produktionen gibt. Wo auch andere Künste eine Bühne finden, auf der man die Dinge zeigen kann, die international ausgerichtet sind, so dass gesagt wird: Geh' nach Leipzig, da ist Raum, da geht’s ab!

Ronald Schubert: In Berlin haben gerade die Uferstudios aufgemacht: 14 Studios, keines kleiner als 160 Quadratmeter – das ist der absolute Wahnsinn. Sowas wünsche ich mir in Mitteldeutschland.

Irina, Ronald, vielen Dank für das Gespräch! www.leipzigertanztheater.de

 

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