Stuttgarter Ballettabend

Stuttgart, 11/12/1999

Der neue Stuttgarter Ballettabend mutet sowohl wie ein knappes Resümee des zu Ende gehenden Tanz-Jahrhunderts als auch wie ein Statement für die künftige Repertoirepolitik der Compagnie an. Zu Beginn als Erstaufführung das Meisterwerk eines der Großen des Jahrhunderts, George Balanchines „Theme and Variations“ aus dem Jahre 1947 zum Finalsatz der Orchestersuite Nr. 2 Peter Tschaikowskys. Von Nicole Siggelkow mit einem geschürzten, schwerblauen Samtvorhang im Hintergrund und einer funkelnden, silber- und brillantengeschmückten Kostümpracht ausgestattet, hat dieses neoklassische Werk einen wahrlich glanzvollen Auftritt. Wie aus Eis geschnittene Skulpturen zelebrieren die Damen und Herren des Corps de ballet Balanchines exquisite Bewegungsmuster, seine überaus schwierigen und doch so natürlich erscheinenden Ensembles. Dieses „Schaut-her!-Ballett“ ist bei den Stuttgartern in besten Händen, selbst wenn sich noch etwas mehr Homogenität und Strahlkraft der Mienen vorstellen ließe. Das Hauptpaar Julia Krämer und Robert Tewsley blitzt und blinkt nur so mit seiner formidablen Technik. Je schwieriger es wird, desto selbstsicherer trumpfen sie auf, adeln die diffizilen Adagio-Passagen mit ätherischer Leichtigkeit, wirbeln provozierend sorglos durch die Allegri und schauen drein, als sei das alles nichts. Da macht es auch kaum etwas, dass Tewsley hier und da winzige Unsicherheiten kaschieren muss. Das soll ihm erst einmal einer nachtanzen.

„Vergessenes Land“, das unvergessene Werk von Jiri Kylián, im Jahre 1981 für Stuttgart geschaffen, erlebte anschließend seine beeindruckende Wiederaufnahme. Von James Tuggle am Pult des Staatsorchesters mit einem glühenden Energiefluss angefeuert, frisst sich diese Choreografie wie ein Flächenbrand über die Bühne. Auf dem Lavastrom von Benjamin Brittens „War Requiem“ entladen sich in Sonia Santiago und Tamas Detrich elementare Kräfte, züngeln Roberta Fernandes und Eric Gauthier wie Flammen durchs Dunkel, und Bridget Breiner und Douglas Lee erfüllen die elegische Schönheit ihrer Partien mit zutiefst bewegender Harmonie. Sie und alle anderen Tänzer dieses Stücks haben dem Repertoire der Truppe ein großes Geschenk gemacht.

Pascal Touzeau, gewissermaßen als Vertreter der kommenden Choreografen-Generation, hat sich indes mit der Uraufführung seines „Jupiter“ zu Mozarts gleichnamiger Sinfonie ziemlich verhoben. So erfreulich die künstlerische Unbekümmertheit von Anfängern im Grunde ist – so bedürfen sie doch einer leitenden Hand, gerade wenn sie sich kühn eines der bedeutendsten Werke der Musik zu Brust nehmen. Die hat es in Stuttgart offenbar nicht gegeben. In einem Anfall von Größenwahn scheucht Touzeau sage und schreibe 41 Tänzer in pastellfarbenen Badeanzügen zu einem neoklassischen Hühnerhof-Ballett auf die Bühne. Das wuselt und macht und tut, rein und raus, gesprungen und gedreht was das Zeug hält, Licht an, Licht aus, Körper schlingern, Arme wehen, Hüften verbiegen sich – es wird einem ganz schwindelig. Zuweilen spielt Touzeau recht geschickt mit den Proportionen, und es gelingen ihm attraktive Momente, wenn er nur eines oder zwei Paare auf der riesigen Bühne drapiert. Aber dass er die Stirn hat, im zweiten Satz Balanchines „Variations“ mit Scheibentutus für Männer und Frauen vor gerafftem Vorgang zu veräppeln, das ist denn doch zu viel der Dilettanten-Chuzpe. Zumal in jedem Augenblick des Stücks offenkundig ist, dass Touzeau, abgesehen von dem Massenauflauf, nicht mit eigenen Ideen choreografiert, sondern sich beinahe ausschließlich der Bewegungen William Forsythes bedient, in dessen Frankfurter Ballett er tanzt. Den Rest seiner Einfälle scheint er aus dem Fundus des Leipziger Ballettchefs Uwe Scholz zu beziehen. Viel Applaus und einige Buhs – wahrscheinlich von Mozart-Liebhabern.

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