Bewunderer und Bewunderte in emotionaler Umarmung

Marcia Haydées Geburtstagsfeier

Stuttgart, 20/04/2002

So ändern sich die Zeiten: Vor wenigen Jahren noch wäre der 65. Geburtstag von Marcia Haydée (18. April) dem Stuttgarter Ballett eine Festvorstellung mit Defilee und Luftballons wert gewesen. Aber am vergangenen Samstag, als aus diesem Anlass zu „Uma Festa para Marcia“ ins Wangener Theaterhaus gebeten wurde, tanzte ihre einstige Compagnie, der sie über die Jahrzehnte hin als Ballerina und Direktorin so unermessliche Dienste geleistet und weltweiten Ruhm eingebracht hatte, ungerührt eine Repertoireaufführung und schickte nicht einmal eine offizielle Abordnung zum Gratulieren. Das übernahmen Theaterhauschef Werner Schretzmeier, Staatssekretär Michael Sieber und Bürgermeister Klaus-Peter Murawski mit erfreulich kurzen Reden. Auch von ihren prominenten ehemaligen Kollegen und Geförderten war nur der Wiener Ballettdirektor Renato Zanella erschienen. Aber wie man Marcia Haydée kennt, hat ihr das wohl kaum etwas ausgemacht. Sie, blendend ausschauend und offensichtlich bester Laune, freute sich herzlich über ihre treuen Fans, die den großen Saal bis kurz vor dem Bersten füllten, über manches vertraute Gesicht aus Kultur, Wirtschaft und Politik und über die vielen Blumensträuße und Geschenke, die ihr vor, während und nach der Vorstellung überreicht wurden. Sie hat ihren künstlerischen Mittelpunkt seit Jahren fernab vom klassischen Ballett gefunden und gastiert unermüdlich in zahlreichen Städten mit jenen dramatischen Tanztheaterproduktionen, die sie gemeinsam mit ihrem neuen Partner Ismael Ivo im Theaterhaus schafft.

Aber Haydée und die Blütezeit des Balletts in Stuttgart sind dennoch untrennbar miteinander verbunden. Wer könnte ihre Interpretationen in John Crankos abendfüllenden Handlungsballetten vergessen, wer die mittlerweile legendären Tourneen nach Moskau und New York, durch welche das Stuttgarter Ballett und seine Primaballerina Marcia Haydée quasi über Nacht aus der Anonymität zur internationalen Spitze aufschlossen! Die Brasilianerin, deren voller Name Marcia Haydée Salaverry Pereira da Silva lautet, entwickelte sich binnen weniger Jahre zu einer der bedeutendsten dramatischen Ballerinen des 20. Jahrhunderts, manche meinen, zur größten überhaupt.

Und auch ihre Leistung als Ballettdirektorin, mit der sie nach dem plötzlichen Tod von John Cranko die verwaiste Truppe zu neuen Höhen führte, indem sie zum Beispiel Choreografen vom Rang John Neumeiers und Jiri Kyliáns nach Stuttgart verpflichtete, gehört zu den Großtaten Marcia Haydées. Wer im heutigen Stuttgarter Ballett hätte die Courage, einen völlig unbekannten, jungen Choreografen damit zu betrauen, ein extrem avantgardistisches, abendfüllendes Stück zu schaffen und für seine Musik auch noch einen der wichtigsten Komponisten unserer Zeit zu gewinnen, so wie es Haydée im Jahre 1979 mit William Forsythes „Orpheus“ zur Musik von Hans Werner Henze wagte? Wer könnte, wie die Haydée, um den Ruf der Compagnie als Uraufführungstruppe zu wahren, sozusagen aus dem Handgelenk als Erstling eine richtungweisende Version von „Dornröschen“ (1987) schaffen, die noch heute das Repertoire des Stuttgarter Balletts ziert? Kein Wunder, dass Marcia Haydée nicht nur vom Publikum in Stuttgart und aller Welt heiß geliebt wurde, sondern dass man sie auch mit Preisen und Ehrungen überhäufte. Zu deren wichtigsten gehört, neben der Professorenwürde, dem Bundesverdienstkreuz und dem John-Cranko-Preis, vor allem der Deutsche Tanzpreis des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik. Und so wurde das Geburtstagsfest denn auch mit dem vorzüglichen Film „M. - wie Marcia“ eröffnet, den ihr früherer, langjähriger Lebensgefährte Jean-Christophe Blavier aus eigenen, aktuellen und vielen privaten Aufnahmen von Haydées einstigem Partner Richard Cragun zusammengestellt hatte. Malerisch auf eine Chaiselongue in der freien Natur ihrer neuen Heimat Schwäbische Alb drapiert, erzählte Marcia Haydée von ihren Kinderträumen, den frühen Tagen in Stuttgart, der Zusammenarbeit mit den großen Choreografen der Welt, während sich, vom Publikum gerührt und amüsiert betrachtet, Szenen mit ihrer Familie, verwaschene Aufnahmen von den Proben mit ihrem ersten Partner Ray Barra und den wichtigen Tourneen, Bühnenauftritten und vom Putzen in ihrem Haus einander abwechselten.

Marcia Haydée und ihre Bewunderer gewissermaßen in emotionaler Umarmung. Anschließend fragte Rainer Woihsyk, ehemaliger Pressesprecher des Stuttgarter Balletts, seine frühere Chefin nach den Quellen ihrer Kraft (Yoga nach Rezepten ihres Ehemannes Günter Schöberl) und ihrer künftigen Karriere. Haydée, ruhig und entspannt: „Ich habe keine Karriere mehr. Ich muss überhaupt nichts - ich mache nur noch. Jeder Tag auf der Bühne ist ein Geschenk.“ Den Abschluss des offiziellen Teils bildete die Voraufführung von Haydée-Ivos neuem, einstündigen Projekt „M. - wie Callas“. Ursprünglich sollten nur einige Probenausschnitte gezeigt werden. Aber die beiden sind, Haydée fühlt sich der Callas in vielerlei Hinsicht seelenverwandt, offenbar in einen regelrechten Schaffensrausch verfallen und haben das Werk bereits jetzt fertig gestellt, sodass die zunächst für den Herbst vorgesehene Premiere auf den 5. Juni vorverlegt werden konnte. Es ist zu hoffen, dass sie die verbleibende Zeit noch zu gründlichen Korrekturen nutzen werden.

Denn das durch und durch depressive Stück schildert vergleichsweise spannungsarm zu Arien mit Maria Callas die letzten zwei Wochen im Leben der Primadonna, umgeben vom Zubehör ihres vergangenen Ruhmes, allein gelassen von ihren Männern, ihren Bewunderern und ihrer Stimme, in denen sie wehmütigen Erinnerungen nachhängt, bis am Ende Ivo resolut ihr Lebenslicht löscht. Vor allem Ivo als ungelenker, Fratzen schneidender Lakai und Despot, der neben der Haydée noch nie so unwichtig und wirkungslos ausgesehen hat, muss sich darum bemühen, seiner Partie mehr Bedeutung zu verleihen. Aber noch ist ja genügend Zeit.

Danach ging es zum inoffiziellen, gemütlichen Feiern am kostenpflichtigen Büfett über, zum Händedrücken, Komplimente machen, Küsschen austauschen und in Erinnerungen schwelgen. Marcia Haydée, der unvergängliche Stern am Tanzhimmel, hat in der ihm eigenen, herzlichen Weise Hof gehalten.

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