Was wir verloren haben

Die Uraufführung „6 meters“ von Jai Gonzales bei der Heidelberger Tanzbiennale

In „6 meters“ zeigt sie die abgrundtiefe Verunsicherung, wenn schlichte menschliche Nähe plötzlich verboten ist, gefährlich scheint oder einfach nur fehlt. Fünf gestandene Tänzer-Persönlichkeiten, gehen auf ihre Weise mit dem drohenden Verlust von Nähe um.

Heidelberg, 14/06/2021

Gesellschaftliche Gruppen neigen dazu, traumatische Erfahrungen eher zu verdrängen als akut aus ihnen für die Zukunft zu lernen – diese soziologische Beobachtung konnte man zum Beispiel in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg vielfach machen. Man darf gespannt sein, ob der Grundsatz auch für den nachträglichen Umgang mit der Corona-Pandemie gilt.

Das Stück „6 meters“ der Heidelberger Choreografin Jai Gonzales – entstanden während der quasi aussichtslosen Situation Ende November des vorigen Jahres (speziell für Künstler*innen) – hat das Zeug dazu, die emotionale Tragweite der Gemeinschaftserfahrungen im Lockdown in Erinnerung zu rufen. Die für ihre kompromisslose Haltung bekannte Choreografin des UnterwegsTheaters hat ihr Stück auch nicht geändert, als es jetzt in den buchstäblichen Öffnungsrausch in der Kulturszene seine Premiere feierte – als hauseigener Bestandteil der Heidelberger Tanzbiennale in der Hebelhalle.

Sechs Meter waren einmal die absurde Vorgabe für die Rahmenbedingungen des Tanztrainings unter Corona-Bedingungen. So weit sollten TänzerInnen aus unterschiedlichen Haushalten Abstand halten, um ja keine Aerosole auszutauschen. Von diesem behördlichen Gruß aus Absurdistan haben sich einige Choreografen notgedrungen inspirieren lassen – mal geschickt unauffällig, mal spielerisch herausgefordert. Jai Gonzales hat dagegen hat den Ernst der Lage choreografiert: die Angst, den Schrecken, die Einsamkeit, Vergeblichkeit und Traurigkeit. Für die späte Premiere hat sie ihre Arbeit unangetastet von der Euphorie des wiedererwachenden Kulturlebens gelassen. In „6 meters“ zeigt sie die abgrundtiefe Verunsicherung, wenn schlichte menschliche Nähe plötzlich verboten ist, gefährlich scheint oder einfach nur fehlt.

Fünf gestandene Tänzer-Persönlichkeiten, gehen auf ihre Weise mit dem drohenden Verlust von Nähe um. Der ehemalige Forsythe-Tänzer Amancio González und die Russin Sada Medova sind während des Lockdowns quasi in Heidelberg gestrandet und gehören inzwischen zum harten Kern des Unterwegstheater-Ensembles, ebenso der sanfte Riese Stavros Apostolatos. Tina Hogan und Shota Inoue bringen ebenfalls ihre ganz eigene Ausstrahlung und tänzerischen Möglichkeiten mit. Jai Gonzales beweist einmal mehr das choreografische Können, die individuellen Potenziale bühnenraumfüllend in Szene zu setzen. Nein, Ellbogenkontakte eignen sich als persönlicher Gruß von morgen, Masken allüberall verursachen Albträume und Umarmungen sind eine zutiefst menschliche Berührung jenseits aller Erotik. Die Arme, die ins Leere greifen, taugen zum Sinnbild einer Zeit, die menschliche Nähe auf noch nie dagewesene Weise infrage gestellt hat. Dabei ist der Verlust von Nähe dann doch wieder ein gewichtiges Thema weitab von Corona.

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