Zitate im Tanz

Buchneuerscheinung „Getanzte Zitate. Vom choreografierten Déjà-vu“

Die Publikation von Maria Katharina Schmidt aus dem Jahr 2020 zeigt neue Perspektiven auf das Phänomen Zitat im zeitgenössischen Bühnentanz auf.

Bielefeld, 04/01/2021

Von Karina Rocktäschel

„Erfahrung ist der Anfang aller Kunst und jedes Wissens“ sagte bereits Aristoteles. Im Tanz und Theater ist Erfahrung immer gegenwärtig. Aufmerksam sitzen wir im Publikum, folgen den Bewegungen, werden hineingesogen in den Strudel aus Körperformen und betäubenden Geräuschen, erfahren das Jetzt in seiner Intensität. Und manchmal schiebt sich in dieser Erfahrungsintensität ein Gefühl der Irritation in unsere Wahrnehmung ein und wir fragen uns: „Habe ich das nicht schon einmal irgendwo gesehen?“ Die Erfahrung wird durchzogen von Momenten des Wiedererkennens, der Widerfahrnis und Wiederkehr. Wie können solche Situationen tanztheoretisch beschrieben, analysiert und schließlich konzeptualisiert werden?

Das untersucht das 2020 erschienene Buch von Maria Katharina Schmidt „Getanzte Zitate. Vom choreografierten Déjà-vu“. Ausgehend von ihren Erfahrungen bei Meg Stuarts „Until Our Hearts Stop“ und „Built To Last“ konzeptualisiert sie eine Theorie des Zitats, die die subjektive Wahrnehmung erfahrungsbasierter Momente zum zentralen Ausgangspunkt nimmt. Ihr Buch untersucht das Zitat als Phänomen der Wahrnehmung und erbringt somit eine Theorie des Zitierens, die sich von den bisher dominanten literaturwissenschaftlichen Ansätzen unterscheidet. So kann ihre Publikation zwei Desiderate der Forschung befüllen: Einerseits die eher marginalisierte Auseinandersetzung innerhalb der Disziplinen Tanz- und Theaterwissenschaft mit Phänomenen des Zitierens; andererseits ein in der Zitationsforschung bisher vernachlässigter phänomenologischer Ansatz. Ziel ihrer Ausarbeitung ist es, Zitationen im Bereich Kunst als Modus des Déjà-Vu erklären, was auf ungefähr 280 Seiten überzeugend gelingt. Immer wieder nimmt sie die Leser*innen in ihren Überlegungen und Beobachtung mit, wiederholt ihr Anliegen und kann so den roten Faden ihrer Theorie verständlich und auch immer sprachlich präzise aufzeigen.

Sowohl die Einleitung als auch das zweite Kapitel nutzt die Autorin, um bestehende Theorieansätze zur Zitation vorzustellen, zu durchdenken und für ihre eigene Suche nach phänomenologischen Ansatzpunkten durchzuarbeiten. Sie setzt sich mit Zitationskonzepten aus fast allen kulturwissenschaftlichen Feldern (u.a. Literatur-, Kunst-, Filmwissenschaft) auseinander und bringt ihre Ergebnisse in Zwischenfazits für sich aber auch für Leser*innen sehr beeindruckend und nachvollziehbar zusammen. Hierbei kann die Autorin hervorheben, dass die Bestimmung des Zitats als Modus des Déjà-Vu eine fundamentale Neudefinition in der Zitatforschung markiert. Wichtig für diesen Modus sind, wie Maria Katharina Schmidt schreibt, die rezeptionsorientierten Momente des „Erkennens aufgrund eines Wiedererkennens“ (98). Das Subjekt und dessen Wahrnehmung, Empfindung als auch Erinnerung, bekommen mittels eines solchen subjektiven Wiedererkennens eine Aufwertung. Erweitert und abgerundet werden ihre Auseinandersetzungen im zweiten Kapitel mit einer Reihe von Beispielen aus dem zeitgenössischen Bühnentanz: Stücke von Marlene Monteiro Freitas, Lupita Pulpo sowie von Die neue Kompanie beschreibt die Autorin sehr anschaulich und auf ihre Thesen bezogen. So kann sie zeigen, wie wichtig die subjektive Perspektive des erkennenden Sehens ist, die die Arbeit theoretisch ausarbeiten will. Eindrücklich vermittelt sie, dass erfahrungsbasierte Momente der Widerfahrnis, Gefühle des „so-oder-so-ähnlich-schon-einmal-Erlebten“ (168) über eine künstlerische Intention bzw. unbewusste Intention hinausweisen können. Ihre Ausarbeitung durchbricht daher produktionsästhetische Ansätze und erbringt eine die subjektive Wahrnehmung berücksichtigende Perspektive in der Zitationsforschung, die in der bisherigen Theorie – wie sie immer wieder zeigt – fehlt.

Das dritte Kapitel des Buches widmet sich der konkreten Konzeptualisierung des Zitats als Modus des Déjà-Vu. Hierbei kann die Autorin überzeugend ihre Aufführungserfahrungen mit breitem Theoriewissen verweben. Sie verdeutlicht, inwieweit ihre erfahrungsästhetische Theorie der Zitation auf einer choreografischen Widerfahrnis beruht, die im Dazwischen der Aufführung – im Intervall zwischen choreografiertem Geschehen und eigener leiblicher Wahrnehmung – das Anwesendwerden des Abwesenden hervorbringt. Sowohl aufführungsanalytische Methoden, die sie von Jens Roselt übernimmt, als auch tanztheoretische Überlegungen zum Déjà-Vu von Gabriele Brandstetter arbeitet Maria Katharina Schmidt souverän in ihre Theorie vom Zitat ein. Im weiteren Verlauf des Kapitels macht sie deutlich, dass es der eigene situierte Körper ist, der eine Kollektion an vergangenen Erfahrungen als Situationsbilder (ein Begriff von Susanne Foellmer) abspeichern kann. Markante Momente während der Aufführung (re-)aktivieren sowohl diese Bilder als auch eine affektive Qualität, die sich als ein Gefühl des „Schon-einmal-Gesehenen“ (226) äußert. Gerade diese Erläuterungen stärken die erfahrungsästhetische Dimension ihrer Argumentation und zeigen den Bruch von den vorherrschenden sprachorientierten Theorien von Zitaten und ihren auf Markierungen (z.B. Anführungszeichen) beruhenden Erkennen aus. Zudem wird anhand der beiden zentralen Beispiele aus dem zeitgenössischen Bühnentanz die mediale Eigenheit der Zitaterfahrung hervorgehoben. Zitaterfahrungen müssen ausgehend und in Verbindung stehend mit dem in sie eingebetteten medialen Gefüge betrachtet werden. So gesehen sind Zitate in jeglichen medialen Settings möglich, unterliegen aber nicht einer postmodern anmutenden Beliebigkeit. Die erfahrungsästhetische Rückbindung von Zitaten an den eigenen Körper und das daraus resultierende situierte Wissen streichen eben jene Beliebigkeit dezidiert durch. Auch hier überzeugt ihre Arbeit durch eine konzise Argumentation der herangezogenen Theorieansätze.

Das letzte Kapitel – Zusammenfassung und Ausblick – eröffnet ein mögliches Weiterdenken des von Maria Katharina Schmidt erbrachten phänomenologischen Ansatzes, hier in Bezug auf die Fotografie. Abgerundet werden die Beschreibungen und Thesen des Buches mit biografischen Anmerkungen zu den für das Buch wichtigsten Choreograf*innen. Auch nicht tanzwissenschaftlich erfahrenen Leser*innen kann so ein Einstieg gewährt werden. Insofern ist dieses Buch nicht nur für Tanz- und Kulturwissenschaftler*innen geeignet, sondern für alle, die Interesse am zeitgenössischen Bühnentanz haben.

Maria Katharina Schmidt: Getanzte Zitate. Vom choreografierten Déjà-vu, Aisthesis Verlag 2020, 280 Seiten, ISBN: 978-3-8498-1544-8, E-Book 978-3-8498-1545-5, 40 €

 

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