„36, Avenue Georges Mandel“ von Raimund Hoghe

Von Hip-Hop bis Hoghe

Das Theater im Pumpenhaus Münster feiert den Juni als Tanz-Monat

Im Kontrast zur Lebhaftigkeit menschlicher Kommunikation der Compagnie Hervé Koubi steht Raimund Hoghes kontemplative Erinnerung an Maria Callas.

Münster, 23/06/2018

Die Entfernungen zum Ziel könnten kaum weiter auseinander liegen und die künstlerischen Gegensätze kaum größer sein. Ludger Schnieder, seit 1985 künstlerischer Motor des städtisch subventionierten Theater im Pumpenhaus am Rande von Münsters Altstadt, widmete den Juni wieder ganz dem zeitgenössischen Tanz aus aller Welt. Zwischen dem „Klangzeit 2018“-Festival für neue Musik im Mai und der neuen Produktion „reich der wörter“ des hier beheimateten „Cactus-Junges Theater Münster“ bevölkern Solist*innen und Gruppen aus Kanada, Kuba, Algerien, Frankreich, Schweden und Deutschland die Spielfläche unter der bizarr historistischen Balkendecke des kleinen Industrierelikts aus dem 19. Jahrhundert. Die stilistische Bandbreite reicht von Bewegungstheater einer Strenge Gerhard Bohners („Sadness Quartet“ von Daniel Leveillé) bis zu überschäumend temperamentvollem Hip-Hop der Compagnie Hervé Koubi, von der intellektuellen Performance Raimund Hoghes bis zur Installation von Kunstakademiestudierenden („Wrecklinghausen“).

Hervé Koubi, dessen Vorfahren aus Algerien stammen, arbeitet seit 2009 mit algerischen, ehemaligen Straßentänzern. Ihre künstlerische Reifung, bei aller erhalten gebliebenen Natürlichkeit, riss die deutschen Zuschauer*innen bereits in Recklinghausen und Neuss von den Sitzen – und jetzt auch in Münster. Der Franzose verarbeitet in seiner Gruppenchoreografie „Ce Que le Jour Doit à la Nuit“ (Die Schuld des Tages an die Nacht) das allpräsente Thema Individuum versus Masse. Eingepfercht in einen zur Zuschauertribüne hin offenen Kubus tummelt sich dicht gedrängt auf der blendend weißen quadratischen Spielfläche ein Dutzend dunkelhäutiger, schwarzhaariger, muskulöser Männer. Sie rotieren barfuß in raffiniert geschnittenen, weißen, orientalischen Hosenröcken in atemraubenden Tempi, wie Derwische – kopfüber – um die eigene Achse, schlagen Räder und springen zu hohen Salti ab. Ihre waghalsigen Hip-Hop-Figuren sind vermischt mit feinster Ausdruckstanz-Gestik in Zeitlupe bis in die zart gespreizten Fingerspitzen. Fast unmerklich verschmelzen die Soloartisten zur Riege – Gruppe – Gemeinschaft. Sie reichen einander zum Reigen die Hände, gehen auf einander zu, umarmen einander, geleiten und unterstützen sich gegenseitig.

Hatten zunächst Naturklänge und danach arabische Musik die furiosen Körperkünste begleitet, so erklingen gegen Ende immer wieder Chorpassagen und Takte aus Bachs „Johannes-Passion“ („Herr, unser Herrscher“). Vom Hinterhof in die Kirche, von der schieren Lust an Luftsprüngen zur Meditation mit sakraler Aura. Selten kommen Orient und Okzident so friedlich-freundlich zusammen. Was für ein Signal gerade hier und jetzt!

Im völligen Kontrast zur zugewandten Lebhaftigkeit menschlicher Kommunikation der Nordafrikaner steht Raimund Hoghes kontemplative Erinnerung an Maria Callas. Der Titel seiner Choreografie „36, Avenue Georges Mandel“ ist die Pariser Adresse der Diva Assoluta des Belcanto bis zu ihrem Tod 1977. Hoghes Hommage wurde 30 Jahre später in Seoul uraufgeführt. Nun steht der fast 70-Jährige mit seinem eindrucksvollen „Dialog“ zweier gänzlich unterschiedlicher Künstlerinnen wieder auf der Bühne. Im Juli beim Festival d'Avignon und jetzt – als eine Art Generalprobe – im Theater im Pumpenhaus, wo er sich seit vielen Jahren zu Hause fühlen darf.

Und so räumte er denn vor seinem Auftritt den ganzen Bühnenraum bis hin zu den Backsteinmauern und alten Heizkörpern leer, ließ nur die beiden hinteren Rundbogenfenster mit provisorischen, schlecht schließenden Fensterläden von innen verdecken. Das Seitenfenster bleibt ganz offen, sodass während der 90-minütigen Vorstellung abendliche Sonnenstrahlen tanzende Muster auf die Rückwand malten und frisch-grüne Baumäste herein winkten. Hoghe stellte sich ab und an vor das Fenster – und lugte zweimal durch die spaltbreit geöffnete Tür ins Freie. Da war – während die Stimme der Callas mit ihrem unverwechselbaren Timbre und unglaublichen Stimmumfang Opernkostbarkeiten aus dem 19. Jahrhundert präsentiert – die deutsche Romantik mit ihrer symbolistischen Naturliebe ganz nah. Kostbare Momente sind das, wenn ein Künstler nicht einfach „sein Produkt abliefert“, sondern mit den jeweils gegebenen Möglichkeiten neue Akzente setzt.

Räumlich derart eingestimmt, zelebriert Hoghe mit gewohnter Sorgfalt und Bedächtigkeit jede Bewegung, jedes lange, ausgedehnte Verharren in einer Geste oder Pose, die die Theatralik des floralen Gesangs aufnimmt, jeglicher Koloratur und Extravaganz und blendender Schönheit aber eher widerspricht. Hoghe sieht die künstlerische Wirklichkeit so: „Es gibt eine Schönheit, die nichts mit Makellosigkeit zu tun hat“. Bezieht er sich da auf die Intonationsschwächen der Callas und seinen Buckel?

Der Düsseldorfer inszeniert sich als Träumenden in seiner zweiten Heimat Paris. Schon vor Beginn der Aufführung liegt er reglos unter einer Schweizer Armeedecke. Später deckt er sich – wie der ärmste der armen Clochards unter den Pariser Brücken – mit drei Pappen zu. Zwischendrin schreitet er – man kennt das aus anderen Hoghe-Choreografien und weiß von der (so ganz anders „gefärbten“) Formenstrenge in der Raumnutzung des klassischen Balletts – die Kanten des Raums ab. Geht kurze, diagonale Wege vom einen zum anderen auf dem Boden liegenden Requisit – in der Mitte Pumps, die ihn, samt Regenmantel statt Männerhose, zur Callas verwandeln. Sein Mitarbeiter Luca Giacomo Schulte hatte die Kleidungsstücke, den Wassernapf, die Abschminkdose anfangs mit Wasserstrichen umrandet, wie Polizisten Kreidesilhouetten nach fatalen Verkehrsunfällen aufs Straßenpflaster malen. Irgendwann zwingt Hoghes leise Art des Kommentars zu den 18 Opernarien von Donizetti bis Bizet jeden Zuschauer in die Knie – die einen verlassen den Raum, andere staunen nur noch über Callas' Kunst – und ärgern sich, dass die technische Qualität der Einspielungen so miserabel ist, dass die Interviewausschnitte kaum zu verstehen sind.

Das Ende überrascht mit einem Höhepunkt: Hoghes langjähriger, eleganter Partner Emmanuel Eggermont umschreitet zum Schlußduett als Radamès aus Verdis Oper „Aida“ ebenso leise und akkurat die Spielfläche wie Hoghe zuvor. Und stellt mit zauberhaft zierlich gespreizten Fingern ein Bild der Callas als Carmen mit Fächer nach; die Diva in koketter Attitüde.

 

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