Bleibende Erinnerung

Ein Blog zur Tanzplattform 2014

Carolin Jüngst, Absolventin der Theaterwissenschaft an der LMU München, ist für uns bei der Tanzplattform 2014 auf Kampnagel Hamburg und wirft einen Blick auf die eingeladenen Produktionen.

Hamburg, 03/03/2014

Am letzten Tag der Tanzplattform, schon etwas verausgabt von den Anstrengungen der letzten Tage, stand für mich noch Tino Sehgals Arbeit mit Frank Willens, Andrew Hardwidge und Boris Charmatz an.

Nachdem ich noch einen Platz in der dritten Reihe ergattern konnte, machte ich es mir gemütlich und war gespannt, was mich erwarten würde. Das Saallicht ging aus, die Bühne blieb dunkel. Los ging’s...

Boris Charmatz betritt die Bühne, positioniert sich und fängt an zu sprechen. Er nennt den Titel, einmal auf Deutsch, einmal auf Englisch. Der ist jedoch in beiden Sprachen jeweils ein anderer und so heißt es auf Deutsch „Das 20. Jahrhundert“, wobei Charmatz hier noch hinzufügt, wie man den Titel zu schreiben hat, und zwar „Das/zwei X/Hund/Hund/Hund/Jahrhundert“. Der englische Name: „Museum of Modern Art“. Danach geht das Licht auf der Bühne an und zu sehen bekommt man einen nackten, sich bewegenden Boris Charmatz, der in den folgenden 50 Minuten verschiedene Posen und Bewegungszitate ausführt. Das Spektrum dabei ist weit und so gibt er über die Dauer des Abends einen tanzgeschichtlichen Abriss des 20. Jahrhunderts und zitiert bewegungstechnisch alle Größen der letzten 100 Jahre, ohne deren Namen zu erwähnen: von Bausch, Wigman, Nijinsky, Cunningham, Bel, Le Roy bis hin zur Postmodern Dance-Ikone Trisha Brown, was mich besonders freut, da sie im Rahmen meiner Bachelorarbeit über mehrere Monate die Protagonistin meiner Forschung war und ich dadurch ihr Bewegungsrepertoire gut kennengelernt habe.

Mit ihrem Stück „Accumulation With Talking“ setzt Charmatz sich dann auch am längsten auseinander. Er erklärt ihr Konzept hinter dieser Performance, in der sie 1973, während einer Vorlesung in Paris, den Versucht machte, den bereits akkumulierten Bewegungen aus „Accumulation“ von 1971 eine sprachliche Ebene hinzuzufügen. Ihr geht es, so erklärt es auch Charmatz dem Publikum, um die Frage, ob sich der Akt des Bewegens und der Akt des Sprechens ausschließen bzw. welche Verbindung zwischen ihnen besteht. Charmatz fügt dem Tanz selbst noch neue, eigene Bewegungen hinzu, während er sich ziemlich locker nebenbei mit dem Publikum „unterhält“.

Die ganze Performance ist wie ein unterhaltendes Spiel des Rätselratens, in dem ich versuche, so viele Bewegungen wie möglich zu identifizieren. Was mich also hauptsächlich amüsiert ist das Erraten und die Zuordnung der Bewegungen. Zuschauer ohne einen Tanzhintergrund oder tänzerisches Wissen sehen das Stück somit natürlich in einer anderen Weise – ob dies ein Manko ist oder vielleicht gar keinen zu großen Unterschied macht, wage ich nicht zu sagen. Aber Boris Charmatz beruhigt ja selbst: „It’s okay if you don’t understand everything“.

Dass es neben dieser Präsentation von verschiedenen Bewegungsstilen noch um etwas anderes geht, nämlich um das Museum und das Ausstellen des Tanzes – darauf macht bereits der englische Titel aufmerksam. Durch die Bühnensituation (die Bühne ist bis auf den Tänzer vollkommen leer und genauso nackt wie der Tänzer), das Fehlen von Musik oder Kostümierung und die teilweise monotone Präsentation, aber auch ungekünstelte Aneignung von Bewegungsabfolgen, wirkt der Tanz nüchtern und ist eben einfach so wie er ist. Vor allem jedoch wird der Körper an sich ausgestellt, und das selbstverständlich während er sich bewegt, es geht ja schließlich um Tanz. Dass Charmatz dabei nackt ist, ist somit also auch nicht verwunderlich. Vor allem, wenn er relativ neutral 100 Jahre Tanzgeschichte darstellen soll.

Am Ende erhält die Performance dann doch noch einen starken Beigeschmack an Absurdität, indem auf die Nacktheit und somit die Sichtbarkeit des Geschlechtsorgans explizit aufmerksam gemacht wird. Charmatz fängt an, mit seinen Geschlechtsteilen herumzuspielen, sie zu verformen oder an ihnen zu ziehen, um schließlich seine Performance damit abzuschließen, den Penis nach oben gerichtet, wie eine Fontäne, Wasser zu lassen. Das Licht geht aus und während die meisten Zuschauer Beifall klatschen, nutzen andere die Dunkelheit, sich vorzeitig aus dem Staub zu machen. Der Saal wird wieder hell – und Boris Charmatz? Der ist bis auf seinen Urin schon längst verschwunden.

Eine bleibende Erinnerung für die immateriellen Museen des Tanzes im 20. Jahrhundert.

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