„Der Nussknacker“ (Spoerli)

Zürich, 19/11/2000

In Nordamerika kann es sich keine halbwegs große Ballettkompanie leisten, zu Weihnachten den „Nussknacker“ nicht aufzuführen. Es gibt eigene „Nutcracker“-Subscriptions, und alle wetteifern mit allen darum, den prächtigsten und größten Christbaum auf die Bühne zu stellen. Der Züricher Ballettdirektor Heinz Spoerli lässt den Bühnenbildner Hans Schavernoch aus dieser Marotte einen Gag machen. Während der Ouvertüre zu seiner nun schon dritten Neufassung des „Nussknackers“ ist durch ein Sichtfenster im Vorhang des Opernhauses ein leuchtender Weihnachtsbaum zu sehen. Doch beim Heben des Vorhangs verschwindet er mit ihm auf Nimmerwiedersehen.

Die Geschichte seiner „Ballettfeerie“ ist zwar im Grunde so erhalten geblieben, wie sie Marius Petipa im Jahre 1892 in St. Petersburg nach E.T.A. Hoffmann entworfen hat. Das Mädchen Klara bekommt einen Nussknacker geschenkt und träumt sich mit ihm im Arm in eine Tanzwelt. Aber innerhalb dieses Rahmens lässt Spoerli kaum einen Stein auf dem anderen. Kein Weihnachten, weder Mäusekrieg noch Zuckerfee. Klara bekommt nun ihren Nussknacker bei einem Ball im Hause ihrer Eltern von einem neu eingeführten Cousin, dessen Freundin ihre Ballettlehrerin ist. Sie und der Cousin werden im zweiten Akt Klaras idealisiertes Tanzpaar sein. Die Interpreten der Nationaltänze treten zum Teil bereits als Ballgäste im ersten Teil auf, damit Klara im zweiten von ihnen träumen kann. Die Mäuse sind in Klaras Traum mutierte Ballgäste. Und so fort.

Traum ist Traum, in ihm kann alles geschehen. So ist es eigentlich nicht unbedingt einzusehen, weshalb Spoerli Klaras Träume dramaturgisch plausibler machen wollte, vor allem, weshalb sich Klara in ihnen nicht als große Ballerina sieht, sondern dieses Glück einer anderen zugesteht. Aber so geht es auch, und viele von Spoerlis Einfällen machen das Stück tatsächlich einleuchtender, wenn man denn glaubt, Träume müssten sich aus der Realität erklären lassen können. Allerdings bringen diese Änderungen den Choreografen zuweilen in musikalische Schwierigkeiten. Denn die neue Zuordnung von Handlung und Personen wirkt manchmal arg erzwungen und oft sogar ausgesprochen gegen den Geist der Musik. Und eine der schon immer größten Ungereimtheiten des Nussknackers, den unmotiviert singenden Chor bei den Schneeflocken, lässt Spoerli leider unangetastet.

Einer der wichtigsten Vorzüge dieser Neufassung ist, dass sie den Tanz gerechter verteilt. Klaras Bruder Fritz, der hinreißende François Petit, hat nun den ganzen Abend über ordentlich zu tun. Das Hauptpaar Cousin (der darstellerisch farblose Stanislav Jermakov, aber ein brillanter Springer und Dreher) und Freundin (die wundervoll reife Ballerina Lada Radda) verkörpern die Essenz des klassischen Balletts, und Klara, von der quirligen Yen Han allerliebst gegeben, ist seine große Zukunftshoffnung. Ihre spektakulären, geworfenen Flüge während des Drosselmeiertanzes (Drosselmeier ist der Diener des Hauses) wären übrigens in jedem Zirkus eine Sensation.

Es gibt bezaubernde Szenen, vor allem bei den Nationaltänzen und in der Begegnung Klaras mit ihrem Ideal, der Freundin im dritten Akt. Wie sie sich ihr während der Solovariation im Grand Pas de deux scheu nähert, das gehört zu den großen Momenten dieses Balletts. Choreografisch ist die Züricher Fassung weniger originell als das „Original“, aber es wird nach Herzenslust und bestens aufgelegt getanzt. Jacek Kaspszyk am Pult trägt seine musikalischen Farben sehr dick auf (ein Sonderlob dem Blech), was man auch Heinz Berners dunklen und schweren Kostümen, vor allem im ersten Akt, wünschen würde. Schavernochs Bühnenbild großflächiger Hintergrundprojektionen ist, wie man so sagt, handlungsdienlich. Das Publikum zeigte sich geradezu unschweizerisch enthusiastisch.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern