„17 Minutes“ von Stephan Thoss, Tanz: Reiko Tan, Lorenzo Angelini, Anna Zardi, Paloma Galiana Moscardó, Arianna Di Franceso, Dora Stepušin

Hinter der roten Tür

Triple-Bill „Boléro, Boléro“ am Mannheimer Staatstheater

Lässt sich nach so vielen Jahren und unzähligen Choreografien mit der hypnotischen Musik noch Neues draus machen. Offenbar schon.

Mannheim, 02/11/2025

Der „Boléro“ von Maurice Ravel ist auch 150 Jahre nach dessen Geburtstag ein Klassiker der Superlative, vermutlich das meistgespielte und bestbekannte klassische Musikstück überhaupt – selbst wenn der Komponist damit kokettierte, dass sein 17-minütiges Meisterwerk leider keine Musik enthält. Aber der charakteristische Trommelschlag des „Boléro“ gehört inzwischen weltweit sozusagen zum kulturellen Wissen. Über 50 bekannte Choreografien sind seit der Uraufführung 1928 entstanden, in der Ida Rubinstein mit einem erotischen Table Dance die Zeitgenossen provozierte. Überhaupt ist das sich ständig steigernde Crescendo mit Trance-Potenzial schnell mit dem Thema Sex in Verbindung gebracht worden – zum Beispiel ironisch im Filmklassiker „Die Traumfrau“.

Der Mannheimer Ballettchef Stephan Thoss hat in seiner ersten Spielzeit (2016/17)  in der Quadratestadt eine eigenwillig, hoch in der Gunst des Publikums stehende „Boléro“- Interpretation auf die Bühne gebracht: In einem Hinterzimmer eines Cafés treffen sich sechs ältere, vom Leben unterschiedlich gezeichnete Damen zur ritualisierten Teestunde, bis die eine mit der „Boléro“-Schallplatte eintrifft. Kaum fährt der dominierende Rhythmus den Damen in die Glieder, fallen die Hemmungen, die Altersgebrechen und Konventionen Schicht um Schicht von ihnen ab. Der witzige, artifizielle Tanzspaß „17 Minutes“ verfehlt auch als Wiederaufnahme im neuen Tanzabend „Boléro, Boléro“ seine Wirkung nicht. Tatsächlich hat Stephan Thoss einen ganzen Tanzabend nur dem Thema „Boléro“ gewidmet, in dem ganz unterschiedliche Varianten zu hören und zu sehen sind. 

Unterdrückte Emotionen

Den Auftakt macht die israelische Choreografin Anat Oz. Ihrem Stück „The One More Time“ nimmt sie eingangs konkret auf die unzähligen „Boléro“-Wiederholungen Bezug, und setzt in ihrem Stück die Sicherheit bewährter Routine der Spontaneität ausgelebter Emotionen gegenüber. Im Raum hinter der roten Tür (die als Erkennungsmerkmal in allen drei Stücken des Abends zu sehen ist) legen die smarten Geschäftsleute im „Boléro“-Sog mit dem coolen Gehabe nach und nach auch die Anzüge ab. Stück für Stück bahnen sich in den Bewegungen unterdrückte Emotionen Bahn – ein kleines Tanzfest für das achtköpfige Herren-Ensemble. 

Zum Abschluss wollte das Choreografen-Duo Rebecca Laufer und Mats van Rossum dem Publikum kein drittes Mal einen kompletten „Boléro“ zumuten. Ravels Musk klingt nur ab und an in kurzen Erinnerungsfetzen an, während die Originalkomposition von Thomas Walschot in eine ganz andere Welt entführt: ins „Sheepshead Bay“, eine Bar in Brooklyn während der Nachkriegszeit. Das gesamte Ensemble ist hier in eine Serie von Mini-Dramen eingebunden, die auf liebevoll-ironische Weise ein patriarchalisches Gangster-Milieu (über)zeichnen.

So wird es auf keinen Fall langweilig mit dem „Boléro“-Thema. Noch mehr Abwechslung hätte freilich ein abstrakter Zugang zur sattsam bekannten Musik geboten, ohne die distanzierte Brechung durch die zugrunde gelegten „Geschichten“. Oder muss man akzeptieren, dass zum unmittelbaren Zauber des „Boléro“ tatsächlich alles Wichtige bereits choreografiert worden ist? 

 

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