Mediationsgespräche reichen nicht
Das Hamburg Ballett hat ein Strukturproblem
Tänzer*innen des Hamburg Ballett schreiben Brandbrief an Kultursenator
Der Beginn war eigentlich sehr vielversprechend: Für seine erste Saison als Intendant des Hamburg Ballett hatte Demis Volpi geschickt agiert und einen abwechslungsreichen Spielplan zusammengestellt – eine gute Mischung aus neu und alt. Mit offenen Armen hatte ihn das Ensemble begrüßt – groß waren die Hoffnungen und Erwartungen, die sich mit dem Wechsel nach 51 Jahren John Neumeier verbunden hatten. Und groß waren auch der Respekt und die Wertschätzung, mit denen Demis Volpi selbst der neuen Aufgabe begegnete. Es sei eine sehr besondere Kompanie, die er da übernehme, sagte Volpi in einem Interview, das wir zum Spielzeit-Auftakt Anfang September 2024 mit ihm führten. Sie verfüge über weltweit einzigartige Qualitäten, z.B. „die Offenheit, sich auf kreative Prozesse in einer sehr tiefgreifenden Art und Weise einzulassen, das Grundvertrauen dem Choreografen oder der Choreografin gegenüber, den Weg mitzugehen und wirklich signifikant in die Materie einzusteigen.“
Nun scheint es allerdings, als sei dieses Grundvertrauen seitens der Kompanie massiv erschüttert, wenn nicht komplett zerstört. In einem Brandbrief an den Hamburger Kultursenator hatte mit 36 Unterzeichner*innen mehr als die Hälfte des Ensembles um Hilfe gebeten. Schon vor einigen Wochen war bekannt geworden, dass fünf Erste Solist*innen zum Spielzeitende gehen werden: allen voran Sasha Trusch, der sogar einen unkündbaren Vertrag drangibt und noch kein Anschlussengagement hat; Madoka Sugai, die dank ihrer herausragenden Qualitäten in aller Welt gastiert; Christopher Evans, der vermutlich in die USA zurückgehen wird; Jacopo Belussi, der als Erster Solist nach Toulouse wechselt und das Ballettfestival in Nervi kuratiert; Alessandro Frola, der als Erster Solist zu Alessandra Ferri nach Wien geht. Einen solchen Aderlass hat es beim Hamburg Ballett noch nie gegeben. Hinzu kommt, dass auch einige Personen aus der Verwaltung des Balletts, teilweise in Führungspositionen, gekündigt haben, was bisher noch wenig bekannt ist. Dass jetzt auch so viele Ensemblemitglieder ihrer Unzufriedenheit mit der Direktion in einem Brandbrief Ausdruck verleihen, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Not muss wirklich sehr groß sein.
Mangelnde künstlerische Qualität, toxisches Arbeitsklima
Der Hauptvorwurf: Der Intendant verkenne die künstlerische Qualität, die das Ensemble aufzuweisen hat, und schöpfe dessen Potential nicht aus, seine Mitarbeiter hätten nicht die nötige Kompetenz. Festgemacht wird das unter anderem an der ersten Neukreation der Spielzeit, „Slow Burn“ von Aszure Barton, aber auch an Demis Volpis eigener Choreografie „The thing with feathers“, die im Rahmen des vierteiligen Ballettabends „The Times are Racing“ gezeigt wurde. Demis Volpi, so der Erste Solist Sasha Trusch im NDR, im Kultur-Journal des NDR und noch deutlicher in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, beherrsche sein Handwerk als Choreograf nicht und glänze überwiegend durch Abwesenheit, es herrsche bereits ein toxisches Arbeitsklima.
Demis Volpi weist die Vorwürfe zurück und bezieht sich auf den Erfolg beim Publikum, den gerade die neuen Stücke, der vierteilige Ballettabend und „Slow Burn“, seiner Meinung nach hatten. Auch müsse er als Direktor oft auf Reisen gehen, um im Sinne einer Erweiterung des Repertoires Arbeiten anderer Künstler zu sehen und sie ggf. für das Hamburg Ballett zu beauftragen. Dass jetzt fünf Erste Solisten gehen, biete der nächsten Generation eine Chance, sich zu bewähren. So ein Wechsel sei normal.
Wie konnte es so weit kommen?
Im Grunde zeichnete sich die Krise schon seit der Premiere von „Slow Burn“ ab, die längst nicht so positiv aufgenommen wurde, wie Demis Volpi es darstellt, weder beim Ensemble noch bei der Kritik. Bei der ersten Premiere, dem vierteiligen Ballettabend „The Times are Racing“, wurde das künstlerisch eher schwache Volpi-Werk vom Erfolg der anderen drei Stücke (von Pina Bausch, Hans van Manen und Justin Peck) weitgehend überstrahlt, der Erfolg des Abends war in erster Linie ihnen zu verdanken.
Dass die Vorstellungen insgesamt bisher gut verkauft waren, sagt noch nicht viel. Nach 51 Jahren Neumeier ist das Publikum neugierig auf das Neue. Wie nachhaltig der Erfolg dann sein wird, wird sich erst im Lauf der Zeit zeigen. Überdies geht die hohe Auslastung von 94 Prozent (Stand April 2025) zu einem Gutteil auf die immer noch beliebten Neumeier-Werke zurück, die ja weiterhin im Programm sind. Volpi wird diese allerdings in der nächsten Spielzeit weiter reduzieren und den Spielplan eher auf kurze Stücke (sein schon in Düsseldorf gezeigtes „Surrogate Cities“ dauert gerade mal anderthalb Stunden) und gemischte Abende mit kurzen Werken ausrichten mit erwartbar verringerter Tänzer*innenzahl.
Ist es vielleicht gerade diese Reduzierung auf kleinere, einfach zu produzierende Stücke, die die Tänzer*innen gegen ihren Chef aufbringt? Die Stärke der Kompanie liegt ja neben ihrer technischen Brillanz und Anpassungsfähigkeit in den großen Handlungsballetten, in einem künstlerisch tiefschürfenden Verständnis von Tanz und Ballett. Dem wird Demis Volpi mit seinem Konzept kaum gerecht. Die Frage ist auch, wie lange das Hamburger Publikum so etwas mitmacht, wenn die Preise bei Premieren in der Spitze bei über 200 Euro liegen. Das bekommt man dann anderswo deutlich billiger.
Hat Volpi sich selbst überschätzt?
Möglicherweise hat Demis Volpi mit dieser Intendanz aber auch sich selbst über- und die damit verbundene Aufgabe unterschätzt. Dass er seine von den Tänzer*innen beklagte häufige Abwesenheit mit Reisen begründet, die er zu unternehmen hat, um das Repertoire zu erweitern, verkennt die Rolle, die er hier beim Hamburg Ballett innehat. Diese international höchst renommierte Kompanie wurde über Jahrzehnte aufgebaut, sie lässt sich nicht „einfach so“ auf diesem hohen Niveau halten. Es genügt nicht, sich auf den vorhandenen Lorbeeren auszuruhen und nur hin und wieder in den Vorstellungen oder Proben vorbeizuschauen. Mehr noch: Wenn jetzt fünf der besten Ersten Solist*innen gehen und damit als Vorbilder für die großen Rolleninterpretationen entfallen, wie soll der Nachwuchs dann überhaupt lernen und verstehen, wie eine hochkomplexe Neumeier-Choreografie funktioniert und getanzt werden muss? Die Kompetenz für die großen Hauptrollen wächst über Jahre und erlernt sich nicht innerhalb weniger Wochen von Video-Aufzeichnungen.
Es liegt jetzt an dem Hamburger Kultursenator Carsten Brosda, ob er ein ernsthaftes Gespräch mit der Kompanie und echte Lösungsansätze sucht. Ansonsten steht zu befürchten, dass das Hamburg Ballett seine Bedeutung verliert und in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Es wäre ein nicht mehr wiedergutzumachender Verlust.
Beachten Sie auch das Interview mit Sasha Trusch, das wir Ende Januar 2025 veröffentlicht haben.
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