„Songs & Dances about the Weather“ von Christoph Winkler. Tanz: Oluwafemi Israel Adebajo

„Songs & Dances about the Weather“ von Christoph Winkler. Tanz: Oluwafemi Israel Adebajo

Silence is Violence

„re:festival“ für Theater, Tanz und Musik 2025 in Nürnberg

Am Wochenende ging das fünftägige Festival in der Tafelhalle Nürnberg zu Ende. Die Reaktionen des Publikums haben gezeigt: Es ist eine gute Idee, ältere Arbeiten noch einmal zu zeigen.

Nürnberg, 06/10/2025

Aus der Dunkelheit schälen sich Michael Kaddu und Oluwafemi Israel Adebajo heraus. Zu Trip-Hop-ähnlichen Klängen beginnen sich die schwarzgekleideten Tänzer zu bewegen. Kaddu geht in die Hocke, lässt seinen Kopf vor- und zurückschnellen, während Adebajo rhythmisch auf den Boden stampft. Hinter ihnen eine große 3D-Projektion: Ein Tänzer, der in einer Landschaft steht, die an Caspar David Friedrichs „Eismeer“-Gemälde erinnert, und mit Schneeschichten regelrecht zugewuchert ist. Wenn er sich bewegt, meint man ein Maschinenwesen zu sehen, das aus der Filmserie  „Transformers“ stammen könnte. Nur eben aus Eis und Schnee statt aus Metall.

Die Bühne eingehüllt in Nebel. Drei Tänzer, darunter der schottische Drag Superstar Gieza Poke, bewegen sich zu Techno. Poke, weißes Hemd, Overknees und Corsage aus schwarzem Lack, wackelt lasziv mit dem Po. Seine Mitstreiter auf Spitzenschuhen queren den Raum. Jeté hier, Coupé dort. Wie beim klassischen Ballett, nur dass außer den Schuhen äußerlich wenig daran erinnert. Die beiden tragen Lackstrümpfe, Strapse, knappe Ledershorts. Alles in Schwarz. Dazu weißes Hemd mit Halsrüsche. Très érotique! 

Vier Tänzerinnen und ein Tänzer in Sportkleidung. In den Händen halten sie zeitweise bunte Pompons. Sind wir beim Ballett oder doch eher beim Cheerleading? Zweifel sind angebracht. Denn skandieren die echten Cheerleaderinnen wirklich Slogans wie „Don’t give up the fights, fights“? Recken noch dazu die Arme kämpferisch in die Höhe, die Hände zu  Fäusten geballt? „Silence is violence“ shouten die fünf auch einmal. Soll heißen: Die Truppe lässt sich den Mund nicht verbieten. Also doch politischer Widerstand anstatt Anfeuerung für einen Sportverein? 

Repertoire-Pflege für freie Künstler

Drei Szenen, drei Eindrücke. Sie stammen aus den abendfüllenden Tanzstücken „Songs & Dances about the Weather“ der Company Christoph Winkler, „Attitude“ des finnischen Choreografen Tomi Paasonen und „Radical Cheerleading“ von Zufit Simon, und waren in den vergangenen Tagen während des Nürnberger „re:festivals“ zu erleben. Das Festival für Theater, Musik und Tanz, das heuer zum vierten Mal in der Tafelhalle stattfand, hat es sich auf die Fahnen geschrieben, ausgewählte Arbeiten der deutschsprachigen freien Szene einem interessierten Publikum noch einmal zu präsentieren, das nach jeder Aufführung mit großem Applaus dankte.

Ein ebenso schöner wie verdienstvoller Ansatz, erhält man so Gelegenheit, Stücke zu erleben, die in anderen Städten zu sehen waren bzw. aus Budgetgründen nur wenige Male liefen. Letzteres leider so gut wie der Normalzustand für die freie Szene. Für die Leiterin der Tafelhalle, Friederike Engel, liefert das Programm daher auch einen wertvollen Beitrag zu Ansätzen einer Repertoire-Pflege, die den weitgehend unabhängig arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern sonst nicht möglich ist. Zwar haben Tomi Paasonen und Christoph Winkler ihre 2022 bzw. 2023 in Berlin uraufgeführten Stücke „Attitude“ und „Songs & Dances about the Weather“ zum Teil in voller Länge auf ihre Websites gestellt. Einem Vergleich mit einem Live-Erlebnis dieser ebenso sinnlichen wie wuchtigen Tanzstücke hält die digitale Konserve aber niemals Stand. 

Over the Rainbow!

Stand das Festival im vergangenen Jahr unter dem Motto „Zurück für die Zukunft“, hieß es diesmal „Over the rainbow!“ Der Regenbogen ist ein Symbol für Hoffnung und Vielfalt, die gegenwärtig so bedroht sind wie lange nicht mehr. Obwohl die aus rund 140 Bewerbungen ausgewählten Stücke zum Teil schon mehrere Jahre alt sind, haben sie nichts von ihrer Brisanz eingebüßt. Im Gegenteil: Angesichts all der Anfeindungen gegen die Christopher Street Day-Paraden in diesem Jahr ist Tomi Paasonens energiegeladene Feier queeren Lebens aktueller denn je. Seine drei Tänzer zeigen „Attitude“. Nicht nur, indem sie das Bewegungsvokabular des klassischen Balletts sexy und frech mit queerer Popkultur mischen, sondern auch, indem sie in den stillen Momenten persönlich von ihrer Jugend, dem Coming-Out, von Anfeindungen und Scham erzählen.

Genauso drängend, wenn nicht drängender als vor zwei Jahren ist „Songs & Dances about the Weather“, das ugandische Rituale zum Regenmachen mit der Klimakrise kurzschließt. Im Ruwenzori-Gebirge gehen die Gletscher mit gravierenden Folgen für Land und Leute bedrohlich schnell zurück. Der eingangs beschriebene Eis-Tanz wäre dann im wahrsten Sinne Schnee von gestern.   

Auch Zufit Simon zeigt mit ihrer beeindruckend exakt choreografierten Inszenierung „Radical Cheerleading“ Haltung. „Seht her!“, scheint das von einer Bewegung wie Femen inspirierte Stück zu sagen, So kann gewaltfreier Protest ausschauen und darüber hinaus noch Spaß machen. Die gebürtige Israelin wird in diesen Tagen für ihr Schaffen den Tanzpreis der Stadt München bekommen. Die Jury verweist in ihrer Begründung explizit auf das vielschichtige, teilweise von harten Beats begleitete Tanzstück, das „nach den körperlichen Ausdrucksformen des Protests sucht“. 

 

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