Ein überfälliges Thema
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„Oiseaux Rebelles“ mit Werken von Mats Ek und Dani Rowe an der Oper Zürich
Der schwedische Choreograf Mats Ek, zu Recht als einer der großen Tanzschöpfer der Gegenwart bezeichnet, wurde vor kurzem 80 Jahre alt. Seine Interpretation der „Carmen“ war ein Auftragswerk für die Weltausstellung in Sevilla 1992. Mit dieser Kreation nun kehrt Mats Ek ans Opernhaus Zürich zurück. Kann sein damaliges Werk, nun über 30 Jahre alt, noch immer überzeugen? Immerhin haben sich inzwischen die Rollen der Frauen – und der Männer – mannigfaltig geändert.
Es kann, wie der Premierenabend zeigte. Ihm, der rund einen Monat in Zürich weilte, um die Entstehung des Stückes zu begleiten, wie auch dem Stück selbst, zollte das Publikum frenetischen Applaus. Das Bühnenbild ist das gleiche: die breiten, hellen Stellwände, rosettenartig in der Form, einem Fächer gleich und mit kreisrunden, grossen Tupfen sowie ein Ballon sind Reminiszenzen an die spanischen Kostüme des Flamenco.
Der Anfang ist düster, er nimmt die Tragik quasi voraus: die Geschichte der rebellischen Carmen, die sich alle Freiheiten nimmt, sich die Liebe nicht aufzwingen lässt und ihr Tun schliesslich mit dem Tod bezahlt. Mats Ek zeichnet keine lineare Handlung, sondern lässt sie aus dem Blickwinkel des Don José entstehen, dem letztendlich verschmähten Liebhaber, der Carmen aus Eifersucht tötet und selbst den Tod findet. Das Stück beginnt mit dem Moment der Hinrichtung von Don José, in dem er sich an seine Begegnungen mit Carmen erinnert.
Schon bald setzt aber das farbenfrohe Fest der Freundinnen in glitzernden Röcken ein. Sie werden verfolgt von einer mysteriösen „M.“ - Micaela, Mutter, Mord, Moral? Auf jeden Fall ist sie die vorausahnende Unheilsverkünderin – hervorragend interpretiert von Shelby Williams. Carmen, von Nancy Osbaldeston im feuerroten Kleid einfühlsam und energisch getanzt, beherrscht von Anfang an nicht nur die Szene, sondern auch die Bühne, mit weitgreifenden Gesten und einem zugleich wilden wie auch zärtlichen Ausdruck.
Selbstbewusst und unbeschwert
Mats Ek lehnt sich an die der Oper zugrunde liegende Erzählung von Prosper Mérimée an. Er verfällt nicht den heutigen Carmen-Klischees von der emanzipierten, männerverschlingenden Frau, sondern zeichnet sie als lebenslustige, selbstbewusste, aber auch jugendliche und unbeschwerte junge Frau, die spielerisch mit den verschiedenen Verehrern umgeht. Das Zigarrenrauchen macht sie noch zu keiner Xanthippe. Esteban Berlanga verkörpert Don José als einen zurückhaltenden, unsicheren Menschen, der nach Halt sucht. Kein Wunder, dass die freiheitsliebende Carmen dem Charme und dem großen Auftritt des Stierkämpfers Escamillo (Brandon Lawrence) erliegt, der Stärke und Männlichkeit zeigt. Don José läuft erst in seiner Verzweiflung, als Carmen in zurückweist, tänzerisch zu voller Hochform auf. Karen Azatyan als Hauptmann und Pablo Octavio als Schmuggler Dancaire haben ihnen ebenbürtige Rollen. Technisch brillant sind sie alle.
Einnehmend ist Mats Eks Humor, der in vielen kleinen Einlagen zum Vorschein kommt – er nimmt die Geschichte ernst, aber trotz der vielen Toten eben doch auch nicht todernst. Die Todesstöße werden schnell, wie im Affekt gehandhabt. Die Toten kurz einmal „entsorgt“.
Als Musik wählte Ek die Carmen-Suite von Rodion Schtschedrin anstelle der Opernmusik von Georges Bizet. Die Musik von Schtschedrin, dessen Frau die berühmte Primaballerina des Moskauer Bolschoi-Theater Maja Plissetskaya war, eignet sich bestens für diese Ballett-Version, einfühlsam gespielt vom Orchester der Oper Zürich unter der Leitung von Matthew Rowe.
Freiheit durch Präzision
Mats Ek überlässt nichts dem Zufall, wenn er choreografiert. Er kreiert seine Stücke allein im stillen Kämmerchen und zwar bis ins Detail. „Freiheit gewinnt man nur durch die Präzision, erst wenn die Choreographie ‘stimmt’, kommt die künstlerische Freiheit“, formuliert er treffend. Auch in dieser Aufführung tritt seine unvergleichliche, originale Handschrift zutage. Die auf flachen Füßen getanzte Choreografie wirkt sehr zeitgenössisch und ist gut nachvollziehbar. Für die Proben kam er einen ganzen Monat nach Zürich, zusammen mit seiner Frau Ana Laguna, die 1992 die Carmen getanzt hatte. Sie hat die Rolle in Echtheit einstudiert und ließ der Tänzerin Nancy Osbaldeston nur Raum in der Gestaltung. Kurz: Was gut ist, ist gut, und muss nicht verbessert werden.
Anders im zweiten Stück, mit dem der Abend beginnt: Die australische Choreografin Dani Rowe (nicht verwandt mit dem Dirigenten!), zurzeit Leiterin des Oregon Ballet Theatre in Portland (USA), ist zum ersten Mal in Zürich zu sehen. Sie hat eine andere Herangehensweise an die Choreografie. Sie lässt sich in ihrem Stück „Vestige“, was so viel wie Spuren oder Überreste bedeutet, von den Tanzenden inspirieren, bevor sie selbst ans Werk geht. Für das Stück setzt sie sich mit Modest Mussorgskis „Bilder eine Ausstellung“ nach einer Orchesterfassung von Maurice Ravel auseinander. Persönliche Erinnerungen, also Erlebnisse und Eindrücke aus der Vergangenheit, werden von den Tanzenden heraufbeschworen. Eine Hauptgestalt, „Human“, getanzt von Max Richter, führt durch die einzelnen Bilder und Ebenen.
Bewegungen sind Erinnerungen
Auf der Bühne sind große Bilderrahmen aufgehängt, zwischen denen sich das Ensemble, wie in einer Bildergalerie, bewegt. Die Tanzenden sind in pastellfarbige Kostüme gekleidet, manche mit verhüllten Gesichtern. Im Gegensatz zu Mats Ek wählt Rowe neben einigen zeitgenössischen Stilelementen, die den Tänzerinnen und Tänzern Freiheiten gewähren, das klassische Vokabular mit Spitzenschuhen. Rowe lässt gern durchblicken, dass die Ballets Russes von Sergei Pawlowitsch Djagilew sie als Australierin sehr stark inspiriert und beeinflusst haben. Ein hochgestecktes Ziel. Zwischendurch wähnte man sich, nur schon wegen der langen Tutus, in die Zeit von 1922 versetzt, in eine Hochzeit der Ballets Russes und dem Jahr, als Maurice Ravels Orchesterfassung entstand.
Dieses Gemisch von Stilen, von Kreationen und Interpretationen, lässt ein konsequentes, eigenes choreografisches Potenzial vermissen. Rowe versucht nicht, eine kohärente Geschichte zu erzählen, sondern folgt der Musik und den bezugnehmenden Bildern. „Bewegungen sind Erinnerungen“, meint sie. Es sind schöne Bilder, denen man aber nicht folgen muss und kann. Es gibt Volkstänze, Sprünge und Hebungen, jeweils der Musik angepasst (etwas zu laut und dynamisch vom Orchester gespielt). Höhepunkt ist das Solo zum Schluss von Max Richter. Hier kommt die starke Eigenleistung einer Leitfigur zum Zuge. Ihre individuell und kreativ gestalteten Erinnerungen sind kraft- und ausdrucksvoll getanzt und einfach wunderschön.
Ästhetisch ist „Vestige“ sicher sehenswert, aber unter der Lupe, das heißt unter der Oberfläche suchend, kommt man nicht weiter. Ein visuelles Erlebnis, wie der ganze Ballettabend sowieso, großartig performt vom Zürcher Ballett.
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