Ein überfälliges Thema
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„Of Light, Wind and Waters“ von Kim Brandstrup am Opernhaus Zürich
Als ein Ballett nach Motiven aus Leben und Märchen von Hans Christian Andersen wird der Abend „Of Light, Wind and Waters“ angekündigt. Es ist ein guter Schachzug der Ballettdirektorin Cathy Marston, den bei uns wenig bekannten Choreografen und Filmemacher Kim Brandstrup mit der Erarbeitung eines Erzählballetts zum Andersen-Jahr zu beauftragen.
Er wählt drei Märchen – „Die kleine Meerjungfrau“, „Der Schatten“ und „Die Eiskönigin“ – aus und verwebt sie mit Andersens Biografie. Ein an sich sehr ambitiöses Unterfangen, so vieles auf einmal in einem Tanzstück verdeutlichen zu wollen. Aber es gelingt ihm, indem er die Märchen nicht vorlagengetreu nacherzählt, sondern sie nur fragmentarisch umsetzt. Er konzentriert sich auf einzelne Motive und fängt so die unvergleichliche Poesie des Dichters ein. Die Poesie erhält in der Geschichte vom Schatten sogar eine eigene Rolle.
Zwischen Realität und Fiktion
Die Figuren in Andersens Märchen spiegeln oft die Sehnsüchte des Autors, seine Ängste und seinen Liebeshunger. Die Suche nach Identität und Anerkennung und ein ewig unerfülltes Liebesleben begleiten den in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsenen Erzähler. Diese Zerrissenheit zwischen Realität und Fiktion versinnbildlicht sich in der poetischen Inszenierung von Brandstrup.
Am Anfang und Ende des Abends stehen sich Andersen und seine Mutter Anne Marie Andersdatter gegenüber, eine einfache Wäscherin und spätere Alkoholikerin. Diese erste Szene spielt auf die Erinnerung an, als seine Mutter ihm Märchen erzählte und ihn damit den Weg zu seinem späteren Erfolg aufzeigte. Im Verlauf des Stückes begegnet Andersen auf der Bühne immer wieder seinen eigenen Märchenfiguren, er betrachtet sich selbst quasi von außerhalb. Sie sind Außenseiter wie er, gefangen und verloren in ihren Sehnsüchten.
Eigene Tanzsprache
Brandstrup ist ursprünglich kein Ballettchoreograf, seine Welt ist die des Contemporary Dance und des Films. Und das kommt ihm hier zugegen. Er wählt einen zeitgenössischen Tanzstil, lässt sich aber von den Techniken der herausragenden und versierten Tänzer*innen des Ballett-Ensembles inspirieren. Bei der Gestaltung ihrer Figuren erhielten sie großen Freiraum. Er musste eine language finden, eine Tanzsprache, die sowohl der Ästhetik des Balletts wie der Erzählweise diente. Die Bewegungen der Tänzer*innen sind dicht und vor allem weitgreifend. Da meistens nur wenige von ihnen gleichzeitig auf der Bühne sind, kann der Platz gut genutzt werden. Und die vielen Rollen bieten den Tänzer*innen viel Raum für eindringliche, solistische Interpretationen.
Wetterphänomene, Licht und Farben
Zu den Motiven gehören die titelgebenden Naturkräfte, wie Licht, Wind und Wasser. Naturkräfte spielen auch in Andersen Geschichten eine wichtige Rolle, vielfach sind die Menschen Kälte und Hitze, Feuer, Luft und Wasser bedrohlich ausgesetzt. Wasserspiegelung auf einfachen, verschiebbaren und dunklen Kulissen (Bühnenbild und Kostüme: Richard Hudson) und Wetterphänomene auf Video (Tieni Burkhalter) verdichten sich zu stimmungsvollen Bildern.
Filmreife Szenen lassen uns von der tosenden See und dem sehnsüchtigen Leiden der kleinen Meerjungfrau und dem schönen Prinzen ins triste Leben eines Dichters gleiten, der nicht nur seinen Schatten verliert, sondern von ihm schließlich umgebracht wird. Vor allem in diesem Märchenteil kommt die genuine Lichtregie (Lichtdesign: Martin Gebhardt) voll zur Geltung, mal sieht man die Schatten des Tänzers im Doppel, mal tanzen sowohl der Dichter wie der Schatten im Duett. Akzente in das düstere Bühnenbild setzen die Farben der Kostüme, meergrün für die Meerjungfrau, eiskaltes Weiß für die Schneekönigin, Rot für den Herzschmerz. Auch wer die Erzählungen von Andersen nicht im Detail kennt, findet sich leicht zurecht.
Klangcollage als Zusammenhalt
„Of Light, Wind and Waters“ ist von Grund auf eigenständig kreiert. Auch der Soundtrack ist neu gestaltet. Der (ebenfalls dänische) Musiker und Komponist Ian Dearden, ein Verfechter neuer und experimenteller Musik, hat ein Sounddesign geschaffen, das, ähnlich wie bei vertonten Stummfilmen, eine akustische Untermalung des dramatischen Geschehens ist. Er vereinte Werke des zeitgenössischen dänischen (!) Komponisten Hans Abrahamsen (1952) sowie der Engländerin Anna Clyne (1980) und verband sie mit Musikstücken unterschiedlichster Komponisten. Als Resultat bildet diese Klangcollage den Zusammenhalt des Ganzen und dient der Verwirklichung sowohl der Stimmungen wie des Geschehens.
Der Schluss, Andersen wieder vereint mit der Mutter, entlässt das Publikum versöhnlich, wir schweben gänzlich mit ihm in die Luft in ein anderes Leben, wo die Sehnsüchte nicht nur Spiegelungen sind, sondern vielleicht sogar erfüllt werden. Ein solch komplexes Werk mit vielen kreativen Beteiligten zu schaffen, ist kein Leichtes. Auch wenn das Werk nur 90 Minuten dauert und Opernhaus-Tarife verrechnet werden, hat „Of light, Wind and Waters“ allen Respekt und vor allem viele weitere Besucher*innen verdient.
Namenlose Solistinnen und Solisten? In dieser Besprechung erfahren wir, wer der Choreograf ist, wer Bühnenbild und Kostüme geschaffen hat, wer für das Lichtdesign verantwortlich ist, wer die Musik komponiert hat und wer für die Videoeffekte zuständig ist - bravo! Doch wer die Solopartien tanzt, unterschlägt uns die Autorin dieser Zeilen. Dies grenzt an Respektlosigkeit gegenüber den Tänzerinnen und Tänzern. Das ist eines Tanzportals unwürdig.
basierend auf den Schlüsselwörtern
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