Das „Ballett der Ballette“
„Dornröschen“ nach neun Jahren wieder an der Pariser Oper – in neuer Besetzung
Es ist eine festliche Hommage an Marius Petipa und das Klassische Ballett, was Rudolf Nurejew im Jahr 1989 für das Ballett der Pariser Oper choreographiert hat. Kaum ist etwas zu spüren von den spannenden psychologisierenden Fantasien, die er zuvor im „Nussknacker“ und im „Schwanensee“ entfesselt hat. Waren sie packende Erzählungen vom Erwachsenwerden eines Mädchens („Nussknacker“) und der homoerotischen Selbstfindung eines einsamen Prinzen („Schwanensee“), strotzt sein „Dornröschen“ in einer Ausstattungspracht ohnegleichen, aber ohne Tiefendeutung.
Die ursprüngliche Ausstattung von Nicholas Georgiadis 1989 verortete den ersehnten Prinzen Désiré im Zeitalter der Aufklärung, während Prinzessin Aurora noch im 17. Jahrhundert lebte und entschlief. Den Prinzen zieht es also aus der unsicheren Welt am Vorabend der Revolution zurück in die Vergangenheit. Er ist ein Romantiker wie etwa Ludwig II. mit seiner Begeisterung für den Sonnenkönig. 1997, vier Jahre nach Nurejews Tod, wurde von Ezio Frigerio und Franca Squarciapino für Paris eine neue Ausstattung geschaffen, man erfährt nicht warum. Sie besteht aus üppigsten Architekturzitaten großer Gemälde – überwältigend. Und zugleich erdrückend.
Von Leben und Tod
Wenn man hinter den Glanz schaut, wird freilich eine Geschichte von Leben und Tod erzählt, kämpfen Fliederfee als Demeter und Carabosse als Hades um die Fruchtbarkeits-Göttin Persephone, die in der Unterwelt gefangen gehalten wird wie Dornröschen im Schlaf und als Aurora wiedererscheinen soll, um die Erde erblühen zu lassen. Fliederfee und Carabosse handeln hier daher wie in den Balletten des Sonnenkönigs als schreitende Figuren nur in Pantomime. Fanny Gorse als Carabosse hat dafür zu wenig Ausstrahlung. Schon der erste Auftritt hinter ihren Höllenfiguren macht keinen Effekt, weil sie bei deren Zurückweichen einfach nur dasteht, aber keine Präsenz zeigt, keine Haltung, die ihren Machtanspruch beglaubigen würde. Und so unbeteiligt absolviert sie auch weiterhin ihre Gesten, mehr auf Kostüm und Begleiter als die eigene Darstellung bauend. Lucie Fenwick als Fliederfee hat die gleichen Probleme: Da muss mehr rein in das Schreiten und Gestikulieren, damit es auch Zauber hat. Wie in allem Reichtum, aller Pracht und Macht der Tod die Hand ausstrecken kann nach dem Leben, das muss in diesem Ambiente bedrohlich spürbar werden, und das wird es im Wechsel der Lichtstimmungen und Zwischenfälle, etwa wenn Carabosse zeitweise den Thron des Königs besetzt hält. Das trügerische Funkeln der klassischen Variationen der guten Feen und der brillanten Einlagen der Edelsteine beim Hochzeitsfest feiern insofern die Kostbarkeit jedes Moments im Leben. Und hier ist die Pariser Compagnie mit ihren Solistinnen und Solisten berückend aufgestellt.
Höfische Spielart
Dass Nurejew als Flüchtling einer Diktatur in den barocken Tänzen etwa der Sarabande auch Karikatur der Macht sehen wollte, vermittelt sich heute aber nicht mehr. Die Erotik lässt Nurejew in seinem „Dornröschen“ völlig liegen. Dornröschens Interesse am Phallussymbol der Spindel, der Stich, die erste Blutung der 16-Jährigen, werden geradezu entschärfend erzählt als Interesse an Strickzeug. Hannah O’Neill ist aber eine überzeugend neugierige Heranwachsende. Sie beherrscht das höfische Spiel, wenn sie im Rosen-Adagio die Blumen ihrer Verehrer einsammelt und sich dann wieder an der Hand des nächsten von jedem eine Runde auf der Spitze drehen lässt, das hat alles Maß, Eleganz und Selbstbeherrschung. Pure Lebenslust ihre Pirouetten-Runden. Und im Grand Pas de deux mit dem Prinzen landet sie nach variationsreichen Soli perfekt im Poisson.
Glauben wir dem Traumpaar mal. Denn es musste natürlich wieder eine Traumprinzessin sein, unter dem verheiraten sich Tschaikowskys Prinzen nicht, dann ist es mehr Vision als Frau. Für Désiré findet Nurejew zu Beginn des 2. Akts denn doch eine eigenständige, seine Gefühlslage ausdrückende Choreografie. Wenn er da in seinem langen Solo einsam um sich selbst kreist, schließ er die Figuren immer enger, bis er seine Emotionen dann doch noch in Luftschrauben entlädt. Er ähnelt hier dem Prinzen aus Nurejews „Schwanensee“. Wir sind nicht so sicher, ob er je in der Realität ankommt. Aber er findet die Erträumte im Schlaf, der Kuss wirkt, das Schloss erwacht, wer weiß in welchem Wachtraum. Germain Louvet als Prinz hat eine edle Ausstrahlung, weiß im Monolog die Traurigkeit zu erfassen und nachher im Hochzeitsakt mit starken Sprüngen, gegrätscht oder gedreht, auch Lebensfreude auszustrahlen. Nurejew lässt nur die blauen Vögel und die weißen Katzen gratulieren, das sieht dann weniger nach Kindermärchen aus. Marine Ganio und Alexandre Boccara flattern das in ätherischer Präzision, während sich die Katzen Claire Gandolfi und Cyril Mitilian etwas handfester balgen. Mitilian zeigt den gestiefelten Kater verspielt, nicht albern, prima. Der 12. Juli ist sein Abschiedsabend, so wird er mit Blumen überhäuft. Sehr rührend. Das Publikum feiert die Produktion seit Monaten. Mehr von Nurejew sieht man in den anderen beiden Tschaikowsky-Interpretationen.
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