„Shall we dance?“ von John Neumeier, Tanz: Ensemble

Schwermütige Nummern-Revue

Neufassung von John Neumeiers „Shall we dance?“ beim Bundesjugendballett mit Gästen

Eine Retrospektive auf die 1920er Jahre mit Anspielungen auf heute als „Tanz zwischen den Kriegen“ zu Musik von George Gershwin – ein schwieriger Mix, nicht wirklich geglückt.

Hamburg, 22/06/2025

Schon vor knapp 40 Jahren – am 3. September 1986 – hatte John Neumeier mit „Shall we dance?“ eine Revue zu verschiedenen Kompositionen von George Gershwin aus der Taufe gehoben, damals in der noch sehr rohen Hamburger Kampnagelfabrik, zwischen rostigen Stahlgerippen und tieffliegenden Tauben in zugigen Hallen. In diesem Ambiente der stillgelegten Kranfabrik, die gerade erst dabei war, sich zu einem It-Place der Hansestadt zu mausern, hat das ganz gut funktioniert. Frack und Zylinder, Glitzerrobe und Straußenfedern zwischen Staub und Dreck und Vogelkot. Mittendrin eine geschwungene Showtreppe und eine grandios auftanzende Kompanie, beseelt und beschwingt von den sprühenden Ideen des Ballettdirektors, der dabei war, ein Ensemble von Weltrang heranzubilden.

„Shall we dance?“, das war damals John Neumeiers Verbeugung vor der Musik von George Gershwin, eine Remineszenz an die 20er Jahre, an seine amerikanische Heimat, an Swing, Jazz und Charleston, an die Spätphase von Diaghilews Ballets Russes und die Revue in ihrer perfektionierten Form auf dem Broadway, an Künstler*innen wie Isadora Duncan, Marilyn Miller, Fred Astaire, Anna Pavlova, an die Lebensfreude, Aufbruchstimmung und Kreativität, aber auch die Nachdenklichkeit und Melancholie dieser Zeit. 

Eine Ahnung davon bekommt man durchaus in der jetzt völlig neu gefassten Version, der Hauptteil jedoch erscheint in einem völlig anderen Kleid, und das steht dem Stück nicht wirklich. Weil das achtköpfige Bundesjugendballett (BJB) für die anspruchsvolle Choreografie mit den vielen Ensembles zu klein gewesen wäre, hat Neumeier dafür kurzerhand die sechs Mitglieder des Hamburger Kammerballetts sowie vier Gasttänzer*innen engagiert, allesamt in der Ballettschule des Hamburg Ballett ausgebildet, teilweise waren sie früher auch Mitglieder der Hauptkompanie bzw. des Bundesjugendballetts und deshalb mit der Bewegungssprache Neumeiers vertraut. 

Düstere Schwermut

Der Zeitbezug, der dem neuen Untertitel „Tanz zwischen den Kriegen“ gerecht werden soll, erscheint allerdings etwas zu gewollt und zwingt dem Stück eine düstere Schwermut auf, auch wenn heute ein Vergleich mit der Zeit nach dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg naheliegt. Da kracht und blitzt und wummert es gleich zu Beginn ein bisschen zu gewaltig über einem einsam im Bühnenhintergrund zwischen wabernden Nebelschwaden sich abzeichnenden Bett, wo sich ein Mann (Oskar Weissel-Hetzel vom Bundesjugendballett als Oskar) vor den Gräueln des Bombenhagels und der brutal das Bett überrennenden Soldateska unter die Bettdecke verkriecht. „War Dreams“ nennt Neumeier diese Szene zu einer dröhnenden Toncollage von Frederic Couson. 

Bis sich der Pulverdampf und der imaginäre Staub zerstörter Häuser verzieht und plötzlich eine geschwungene Showtreppe ausklappt, der junge Mann sich aus dem Federbett schält und eine junge Frau (Kristina Nadj) ein Gedicht deklamiert. Es ist „Renascence“ von der US-Lyrikerin Edna St. Vincent Millay von 1912. Später folgen von ihr noch „First Fig“, „Second Fig“ „The Ballad of the Harp-Weaver“ (in einer Aufnahme mit Johnny Cash), für das sie 1922 als erste Frau den Pulitzer-Preis bekam, „What lips my lips have kissed“ und „Love is not all“. Rezitiert werden auch Texte von F. Scott Fitzgerald, ergänzt durch lange, erzählende Textpassagen, die den historischen Bezug zur Situation vor hundert Jahren herstellen sollen, immer wieder mal unterbrochen von einem Nummerngirl mit rotem MAGA-Cap, das „Make America great again“ dazwischengrölt. 

Es ist diese Kombination mit dem gesprochenen Wort, die dem Stück nicht wirklich gut bekommt – erscheint die expressive Choreografie doch beredt genug, um auszudrücken, woran erinnert werden soll. Zusammen mit den von der Sopranistin Caroline Bruker gesungenen Sequenzen wirkt das fast dreistündige Stück überfrachtet. Es verliert dadurch eher an Intensität, als dass es eine neue Dimension hinzugewönne.

„Hamburg Ballett 2.0“

Hervorzuheben ist jedoch, dass das gesamte Ensemble des Bundesjugendballetts, des Hamburger Kammerballetts und der vier Gäste auf hohem Niveau tanzt, auch wenn manches noch nicht ganz gelungen ist, was vielleicht aber auch dem Premierenfieber geschuldet war. 

Die Pianistin Mayuko Arita hatte ihre im Graben versteckten Ko-Musiker*innen perfekt im Griff, wenn sie zusätzlich zu der eingespielten Musik vom Band die Klänge von George Gershwin und Maurice Ravel zum Leben erweckten. 

Alles in allem mutete dieses bisher größte Stück, das das BJB je aufgeführt hat, ein bisschen an wie ein Abend mit einem „Hamburg Ballett 2.0“, getanzt jetzt eben im Ernst-Deutsch-Theater anstatt in der Staatsoper. Als habe John Neumeier damit zeigen wollen, wie man mit einem Ensemble arbeitet (das hier ja durchaus zu tänzerischen Höhenflügen motiviert worden war) und wie man eine Inszenierung macht, auch wenn diese teilweise etwas bemüht und insgesamt zu langatmig war. 

Es sei die Frage erlaubt, ob das wirklich der Auftrag des Bundesjugendballetts ist: ein Stück von John Neumeier zu recyceln, nur weil der 86-Jährige als Intendant fungiert und es eine Militarisierung gibt, die an die Zeit zwischen zwei Kriegen erinnert? Zumal dieses große Werk nicht so leicht an andere, vor allem kommunale Spielorte und Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Gefängnisse und Altersheime zu verpflanzen sein wird (wie es der Anspruch des BJB ist) – müssten dann doch auch alle Beteiligten zur Verfügung stehen, und dürfte die Aufführung insgesamt zu aufwendig und teuer sein für solche Gastspiele. Zu fragen ist auch, ob es wirklich sein muss, dieses Stück volle vier Wochen lang (!) bis zum 18. Juli im Ernst-Deutsch-Theater auf den Spielplan zu setzen – die Hälfte davon parallel zu den Hamburger Ballett-Tagen. 

 

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