„Nijinsky“ von John Neumeier in Baden-Baden, Ta„Nijinsky“ von John Neumeier in Baden-Baden, Tanz: Aleix Martínez und Ida Praetoriusnz: Aleix Martínez und Ida Praetorius

„Nijinsky“ von John Neumeier in Baden-Baden, Tanz: Aleix Martínez und Ida Praetorius

Das Hamburg Ballett zu Gast

The World of John Neumeier in Baden-Baden

John Neumeier ist nicht mehr Ballettdirektor und Intendant des Hamburg Ballett, jedoch ist er immer noch die große künstlerische Leitfigur der Kompanie, das haben die aktuellen Vorstellungen in Baden-Baden eindrucksvoll gezeigt.

Baden-Baden, 14/10/2025

Back to the Roots: Nach dem misslungenen Abenteuer, dieses in Jahren gewachsene Ensemble mit einem neuen jungen Chef (Demis Volpi) zusammen zu bringen, tanzen die Mitglieder des Hamburg Ballett nun wieder – unter der interimistischen Leitung von Lloyd Riggins – mit voller Hingabe für ihren Meister und Schöpfer. 

Ein wenig magisch wirkt es schon, wenn John Neumeier während der Ballettwerkstatt zu seiner Kompanie spricht, ihnen, während sie tanzen, leise Anweisungen gibt, wie sie sich bewegen sollen – das Was ist schon lange geklärt… Es ist mehr als eine Ballettwerkstatt, was er da am Eröffnungsabend des Festivals zeigt: es ist die Demonstration eines lebenslang erfolgreichen künstlerischen Wirkens, präsentiert mit der Hauptkompanie, dem Bundesjugendballett, Studierenden der Ballettschule und Gästen – bescheiden und mit Altersweisheit dargeboten. 

Als John Neumeier, während er seine Ballette vorstellt, seine Gedanken zu „Epilog“ erläutert und zum perplexen Publikum sagt: „Hoffentlich ist es nicht mein letztes Werk…“, ist das Erstaunen groß. Wie kann ein Künstler nach 51 Jahren Ballettdirektion alleine in Hamburg und inzwischen insgesamt 175 Werken aufhören, Tanz zu kreieren? – Angeregt durch die überaus interessante Ballettwerkstatt, in der es sogar exklusiv einen Ausschnitt aus „Le Pavillon d´Armide“ gab, eines Balletts, das den Mythos Nijinsky mitbegründete – die Rolle Nijinskys getanzt von Alexandr Trusch – begibt sich das Publikum auf die Reise durch Neumeiers Welt…

Tanzlegende Nijinsky 

„Eine Rosenblüte, die auf einem Windhauch durch ein offenes Fenster fliegt…“ – diese Worte und die Lektüre der Biografie „The Tragedy of Nijinsky“, gelesen als 11-jähriger Junge, waren wohl nicht nur der Beginn einer lebenslangen Beschäftigung John Neumeiers mit dem Ausnahmetänzer Vaslaw Nijinsky, sondern auch so etwas wie eine Initialzündung für Neumeiers Weg zum Tanz.

Das berühmte Ballett „Le Spectre de la Rose“, in dem Nijinsky als „Geist der Rose“ in einem Kostüm mit Rosenblättern durch ein Fenster gesprungen kam, ist legendär. Ebenso Nijinskys Auftritte als erotischer Goldener Sklave in „Scheherezade“, als lüsterner Faun in seinem skandalumwitterten Tanz in „L´Après midi d´un faune“ und sein Petruschka, der verzweifelt gegen das Leid der Welt antanzt. All diese Figuren tauchen in Neumeiers Ballett „Nijinsky“ auf, das er – nach Jahren des Nachdenkens – im Sommer 2000 in Hamburg in eine künstlerische Form gegossen hat. Eine Form, die in ihrer Innerlichkeit, aber auch durch gewaltige Gruppenszenen überzeugt, die den Kampf und das Leid des Ersten Weltkriegs thematisieren – von Nijinsky immer wieder in seinem Tagebuch beklagt – Tanzszenen von einer Wucht und Komplexität, die das Publikum staunen macht.

Mit einem klugen dramaturgischen Griff lässt er alle Rollen, die Nijinsky berühmt gemacht haben, von unterschiedlichen Tänzern tanzen: der Sklave und der Faun (lustvoll und sinnlich: Louis Musin), Petruschka, (anrührend-traurig: Louis Haslach) und andere – sie alle tauchen als Erinnerungen auf für einen immer mehr in seine eigene Welt abdriftenden Nijinsky als Mensch: tiefgründig und überwältigend dargestellt von Aleix Martinez. Die Duette mit seinem Impresario Diaghilew, der Nijinsky in die Liebhaberrolle zwingt (hervorragend und subtil-arrogant: Matias Oberlin), sind deutlich in der Aussage, aber mit Feingefühl inszeniert. 

Die Ehefrau Romola – elegant getanzt von Ida Praetorius – war wohl eher in die meist erotischen Rollen Nijinskys verliebt, als in ihn als Mensch; dennoch blieb sie ihm ein Leben lang verbunden und unterstützte ihn während seiner langen Krankheit. Ein interessantes Ränkespiel zwischen Romola, Vaslaw und dem Faun macht Neumeiers Interpretation sehr nachvollziehbar. Die Inszenierung der Gäste im feinen St. Moritz bei Nijinskys letztem Tanz in einem dortigen Hotel, mag ein wenig an Baden-Baden erinnern, seit jeher ein Mekka für Kunstliebhaber. Das bewegende Solo, in dem Neumeier Nijinskys Tanz „Hochzeit mit Gott“ nachempfindet, bestreitet Anfang und Ende des Balletts – ganz großartig dargeboten von Aleix Martinez. Die Rolle wurde alternierend auch von Alexandr Trusch als Gast getanzt.

Insgesamt war Neumeiers „Nijinsky“ ein Abend prall voll mit Eindrücken: mit besinnlichem und hochdramatischem Tanz, mit atemberaubenden Gruppenszenen, die an Virtuosität und Tempo ihresgleichen suchen. Die 11. Sinfonie von Schostakowitsch, klanggewaltig von der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Nathan Brock live dargeboten, trug enorm zum Gesamteindruck des Abends bei. Am Ende ein überwältigtes Publikum, ein Sturm der Begeisterung und: Gänsehaut…

Alter Ego trifft Jugend

Nach Auftritten des dänischen Kammerballetten – mit einem sehr interessanten Beitrag der jungen israelischen Choreografin Ella Rothschild: „Wounds of Autumn“ – und Vorstellungen des Bundesjugendballetts, sowie in „Absprung“ präsentierten Arbeiten der Schüler*innen der Ballettschule des Hamburg Ballett, beschließt das Ballett „Epilog“ das diesjährige Festival. Mit Musik von Schubert, Strauss und Songs von Simon & Garfunkel werden Erinnerungsszenen aus Neumeiers Leben (Familie mit Küchentisch, Freunde, Begegnungen) auf hochästhetische Weise dargestellt. Sehr eindrucksvoll tanzt Caspar Sasse das jugendliche Alter Ego von John Neumeier, auch immer wieder im Duett mit Louis Musin. Eine leitmotivische Bewegungsfolge zieht sich interessant variiert durch das ganze Stück.

Nach autobiografischen Zügen in diesem seinem letzten Ballett als Ballettintendant in Hamburg gefragt, zitiert John Neumeier Marcel Proust: „Ein Mensch wird beschrieben durch das, was er liebt, was er ehrt, hasst oder fürchtet“. In diesem Sinne kann man Liebe, Freundschaft (für die Neumeier sehr innige Bilder findet), Aufbegehren und unbändigen Hunger nach Leben (wunderschön zu den Songs von Simon & Garfunkel) in den biografischen Episoden finden. Aber immer so, dass diese Handlungsfragmente frei interpretierbar sind. 

John Neumeier ist ein Meister des modernen Handlungsballetts: er ergründet thematische und literarische Inhalte genau, inszeniert aber eher seine oder des Protagonisten Empfindungen, Erlebnisse, Abgründe und verzichtet auf die traditionelle Ballettpantomime: er erzählt alles durch Tanz. Dabei sind seine Choreografien in der Lage, selbst hochdramatischer Musik standzuhalten, sie zu füllen. Das macht seine Tanzkunst großartig. – Die Kostüme für „Epilog“ von Albert Kriemler (A-K-R-I-S-Modelabel) sind einem Bild des Renaissance-Malers Piero della Francesca nachempfunden. David Fray interpretiert die Musik Schuberts (Drei Klavierstücke D 946 und die Klaviersonate B-Dur D 960) souverän und vor allem in den Piano-Momenten sehr spannungsreich. Er fügt sich hervorragend in Neumeiers Tanzkosmos ein. Allerdings lässt die Klavierversion der Vier Letzten Lieder von Richard Strauss den großen Atem vermissen, den die Orchesterversion zweifellos hat. Maria Bengtsson singt sie mit facettenreichem Sopran und ist auch szenisch in die Choreografie mit eingebunden. Ida Praetorius beeindruckt wieder einmal in einem bewegenden Pas de deux mit Lennard Giesenberg zum Lied „September“ und mit wunderschönen Übergängen in der Stille zwischen den Liedern. Insgesamt ein Abend – nicht ohne Längen – der aber einmal mehr John Neumeiers feine, ja vornehme Tanzkunst zelebriert.

Das Hamburg Ballett ist nach wie vor auf dem Höhepunkt seines Könnens. John Neumeiers Tanz wird weitergehen, seine Welt wird sich weiterdrehen: beim Hamburg Ballett, in Baden-Baden und auch bei anderen großen Kompanien international. Es bleibt nur die Frage, welche Lösung für seine Nachfolge in Hamburg gefunden wird, wer kann John Neumeier das Wasser reichen? 

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