Die Kraft der Erinnerung
„REMEMBER ME“ beim Stuttgarter Ballett
Es war eine gute Idee des Stuttgarter Ballett-Intendanten Tamas Detrich, „Das Lied von der Erde“ von Kenneth MacMillan, „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Maurice Béjart und ein Fragment aus „Spuren“ von John Cranko zu einem Ballettabend zusammenzuspannen. Alle drei Kreationen haben – obwohl bereits über 50 Jahre alt – einen höchst aktuellen Bezug zu unserer Zeit, bei allen dreien stammt die Musik von Gustav Mahler, und alle drei Meister-Choreografen waren dem Stuttgarter Ballett eng verbunden. Ein gelungenes Triple also – und gleichzeitig eine lohnende Rückschau auf frühere Zeiten, die ebenso nachdenklich wie wehmütig geriet. Denn dieser Abend zeigte auch, was seit den Anfängen des Stuttgarter Balletts verlorengegangen ist, und wie wichtig es wäre, diese Qualität ins Gedächtnis zu rufen und wieder zu beleben.
Der fehlende Spirit
Da ist zum einen „Das Lied von der Erde“ von Kenneth MacMillan. Es wurde am 7. November 1965 in Stuttgart erstmals gezeigt, notgedrungen – denn ursprünglich hatte MacMillan das Werk dem Royal Ballet in London angeboten. Dort jedoch fand man Mahlers Musik zu „heilig“, als dass man darauf ein Ballett hätte machen dürfen. John Cranko, erst seit wenigen Jahren Stuttgarts Ballettdirektor und bekannt für seine Unerschrockenheit, lud den Freund kurzerhand ein: „Dann machst Du es eben bei uns!“ Und so wurde dieses sehr besondere Werk nicht an der Themse, sondern am Eckensee in der baden-württembergischen Landeshauptstadt aus der Taufe gehoben.
Seither gilt es als DAS stilbildende Ballett zu Mahlers sechsteiligem sinfonischen Liederzyklus. Ähnliches hatte man vorher nie gesehen. Eine bestechende Schlichtheit zu einer überaus emotionalen Musik (wobei die Mezzo-Sopranistin Anna Werle die schwierigen Lieder sehr viel klarer und souveräner intonierte als der Tenor Airam Hernandez, dessen Stimme sich gegen das Orchester nur selten durchsetzen konnte). Ein komplett reduziertes Bühnenbild (schwarz abgehängte Gassen, farbiger Hintergrund), schlichte Trikots in Erdfarben. Fließende Ensembles mit klaren Linien für acht Paare. Das war seinerzeit nahezu sensationell. Und bis heute ist MacMillans Version von diesem Stück unerreicht.
Das Stuttgarter Ballett gibt sich ganz der anspruchsvollen, sehr auf Exaktheit angewiesenen Bewegungssprache hin, auch wenn ein paar Unsicherheiten bezüglich der Synchronität noch erkennbar waren.
Für die zeitlose Erzählung des Menschenschicksals in Leben und Tod stellt MacMillan dem „Ewigen“, dem Tod, eine Frau und einen Mann an die Seite. Sie verkörpern die Welt, den Reigen des Lebens. Elisa Badenes als Frau bewegt sich mit großem Ernst und lupenreiner Eleganz durch die Choreografie, um dann zusammen mit ihm und dem Tod in die Ewigkeit zu gehen. David Moore als der Ewige und ebenso Jason Reilly als Mann sind ihr im Ausdruck allerdings nicht gewachsen. Beide bleiben flach und bemüht, ohne die Tiefe dieser Choreografie wirklich auszuloten. Obwohl Marcia Haydée höchstselbst die Einstudierung der Originalversion von 1965 übernommen hatte (in der sie seinerzeit selbst mit Ray Barra oder Richard Cragun als Mann und Egon Madsen als „der Ewige“ tanzte), fehlte Reilly und Moore leider genau das, was mal der einzigartige Stuttgarter Spirit war: die Hingabe, die Innerlichkeit, das Herz. Gerade bei diesen beiden tragenden Rollen ist das besonders bedauerlich.
Pas de Deux für zwei Männer
Erheblich erfreulicher gerieten Mahlers vier „Lieder eines fahrenden Gesellen“ in der Choreografie von Maurice Béjart, präzise einstudiert von Gil Roman, dem langjährigen Tänzer unter Béjart und dessen Nachfolger in der Leitung des Béjart Ballet Lausanne. Hier brillierten Stuttgarts Erste Solisten Henrik Erikson und Martí Paixà, begleitet vom stilsicheren Gesang des Baritons Yannick Debus. Wie sich die beiden Männer hier im Tanz begegnen, zuerst scheu und verhalten, dann leidenschaftlich, aber auch verletzend, zerstörerisch, um schließlich doch zusammen weiterzugehen, klar und zielstrebig der eine, zögerlich-ängstlich und eher widerstrebend der andere – das war bewegend anzuschauen und makellos getanzt.
In seinem Ursprungsjahr 1971 war dieser Pas de Deux, damals von Béjart für Rudolf Nurejew und Paolo Bortoluzzi kreiert, nahezu skandalös. Und auch noch 1976, als ihn Stuttgart ins Repertoire übernahm (John Cranko war da schon drei Jahre tot), erregte er die Gemüter. Denn Béjart hatte hier etwas auf die Bühne gebracht und damit offenkundig gemacht, was zu dieser Zeit und noch lange danach tabu und sogar strafbar war: die Liebe und Partnerschaft zwischen zwei Männern (der § 175, der die Homosexualität unter Strafe stellte, fiel erst 1994).
Ein bewegender Schluss
Den – wenngleich nur kurzen, aber umso eindringlicheren – Höhepunkt des Abends jedoch bildete John Crankos letztes Werk: „Spuren“ zum Adagio von Mahlers 10. Sinfonie. Nach der ausgebuhten Premiere 1973 wurde es erstmals anlässlich einer Gala zu Crankos 50. Todestag 2023 wieder auf die Bühne geholt, und mit diesem Ballettabend hat Tamas Detrich zumindest das Fragment dieses wichtigen Werkes offiziell wieder im Repertoire verankert (schade nur, dass nicht das gesamte Stück rekonstruiert wird, solange mit Marcia Haydée und Egon Madsen die Hauptpersonen der damaligen Protagonisten und mit Jürgen Rose der Bühnen- und Kostümbildner noch am Leben sind).
„Spuren“ erzählt, wie eine junge Frau (noch einmal sehr berührend: Elisa Badenes) nach Krieg und Lagern an der Seite eines Mannes (erneut recht farblos: David Moore) in ein normales Leben zurückkehrt. Kaum erträglich ist für sie die Oberflächlichkeit, die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die von den Gräueln der Vergangenheit nichts weiß oder nichts wissen will, symbolisiert durch fünf Paare, die Jürgen Rose in einfarbige Vintage-Kleider gesteckt hat. Die Spuren des Überstandenen holen die Frau hier wieder ein, die Dämonen und Schrecken der Erlebnisse, personalisiert durch einen kahlgeschorenen Mann (beeindruckend: Martí Paixà). Und es gehört zu den grandiosen Kunstgriffen Crankos und Roses, dass sie hier die Statisterie in sackartige Gewänder gesteckt haben, die sie beim Höhepunkt in Mahlers Musik, bei diesem dissonanten Verzweiflungs-Crescendo, unter dem grellen Licht der heruntergefahrenen Scheinwerferbatterien fallen lassen, wobei auf den Rücken geprägte Nummern sichtbar werden. Aber letztlich siegt die Hoffnung, wenn das Paar gemeinsam einem sich am Bühnenhintergrund öffnenden Lichtquadrat entgegenschreitet.
Dramaturgisch geschickt, dass Tamas Detrich gleich am Anfang, noch bevor der Tanz beginnt, ein kurzes Video von 1973 einspielen lässt, aus den Proben im Ballettsaal, wo Cranko seinen drei Hauptdarsteller*innen – damals waren das Marcia Haydée, Heinz Clauss als begleitender Mann und Richard Cragun als Repräsentant der brutalen Vergangenheit – erklärt, worauf es ihm ankommt. Wie die Musik spiegelt, was die Frau erlebt: die Leichtigkeit und Sinnlichkeit der Wiener Walzerseligkeit und dann der Umschwung zur schmerzlichsten Qual, die sich in Tönen je ausgedrückt hat. Man erlebt in diesen wenigen Minuten eindrücklicher als in jedem Spielfilm, was die Magie Crankos ausgemacht hat, seine Hingabe, seine Begeisterung und Schaffenskraft, vor allem aber seine Liebe zu seinen Tänzer*innen.
Das Publikum feierte das Premierenensemble sowie das einfühlsam aufspielende Staatsorchester Stuttgart unter Mikhail Agrest mit langanhaltendem Beifall, der sich zu Standing Ovations steigerte, als Elisa Badenes Marcia Haydée auf die Bühne holte, die unsterbliche Grande Dame des Stuttgarter Balletts.
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