Die Auserwählten 13
Die Tanzplattform Deutschland 2026 stellt ihr Programm vor
Dass das alles so recht übersichtlich beginnt, ist eine Falle. Giulia Russo ist in ihre komplizierten Yoga-Posen vertieft. Alessandro Ottaviani in der Ecke, erhöht auf einem Podest, wirkt wie das Bildnis einer Denkerpose, in sich versunken, reglos, in der Hand ein Schild: „Mood“. Yuexuan Gui ruht elegant ihm schräg gegenüber: hautfarbenes Kostüm, alles enganliegend. Ihr Kopf ist fest eingepackt in eine Lifting-Bandage.
Das hat alles nichts miteinander zu tun. Vor allem haben sie nichts miteinander zu tun. Das ist entscheidend. Nam Tran Xuan, ganz im Hintergrund, bringt mit seiner Abfolge merkwürdiger Bewegungen, die irgendwas zu bedeuten scheinen, auch keinen Zusammenhang in die Sache. Aber: Das alles scheint trotzdem ganz schön wichtig zu sein. Zumindest für sie selbst gesehen.
Die Tänzerinnen und Tänzer, komplettiert noch durch Niklas Capel, sind inzwischen ein eingespieltes Team. Alle haben schon in Arbeiten von Maria Chiara de Nobili und Alexander Miller getanzt. Die beiden Preisträger des diesjährigen Förderpreises der Landeshauptstadt Dresden tauchen in ihrer neuen Arbeit „Hype the Pain“ gemeinsam mit ihrem Cast genüsslich in den digitalen Wahnsinn, wie er sich „am schönsten“ auf TikTok zeigt. Gábor Halász ist mit seinen Sounds inzwischen im Team genauso eine feste Größe wie Geohwan Ju mit seinem Lichtdesign.
Kosmos der inszenierten Aufmerksamkeit
Das atmosphärische Wummern Halász‘ zu Beginn öffnet unmerklich die Falltür in den Kosmos der inszenierten Aufmerksamkeit. Die Tänzerinnen und Tänzer beginnen, jeweils einen Punkt im Raum zu fixieren, den sie „anspielen“. Der Witz an der Sache: Ohne Kamera wirken diese Selbstdarstellungen grotesk. Und das ist hier natürlich der Punkt.
Es dauert nicht lange, bis alles in Fahrt kommt und die Bühne des Festspielhauses zur Spielwiese wird, auf der ein dreidimensionales Wimmelbild vorbeiflirrt. Es ist unmöglich, alles zu erfassen, was da abgeht. Giulia Russo hält sich mit verkrampftem Lächeln eine angedeutete Pistole an die Schläfe, während hinter ihr gleichzeitig ... Aber da ist es auch schon wieder weg, und das nächste kommt. Was auch immer das sein mag. Diese andauernde Selbstbeweihräucherung, das mit Nachdruck ausgestellte Aufladen banaler Gesten mit Bedeutung, um sich selbst Bedeutung zu verschaffen, die vermeintlich nur über Aufmerksamkeit erreicht werden kann. Und die findet sich bekanntlich in Klicks und Likes und Reposts und Kommentaren und Followerzahlen. Angeblich.
Um den Hype zu hypen „braucht“ es natürlich umfangreiches Tagging. Und so, wie hier die Clips der Selbstinszenierung aus dem digitalen Raum in die direkte Bewegung geholt werden, sind auch die Hashtags auf der Bühne: Zu dem Schild mit der Aufschrift „Mood“ kommen unzählige weitere. Panic. Trauma. Fail. Me Me Me. What I eat in a Day. Sale. Fake. Detox. POV. Share. WW3. Cringe. Porn. Allein schon diese Begriffe skizzieren die grenzenlose Vielfalt der repräsentierten Inhalte. Das Vorhandensein dieser Schilder im Raum unterstreicht dazu aber auch noch die so schon nicht zu bewältigende Informationsflut. Das menschliche Gehirn ist dafür schlichtweg nicht gemacht.
Entwertete Inhalte
Und durch diese Flut werden Inhalte an sich entwertet. Weil kein Fokus möglich ist, fällt das Einordnen der Informationen zwangsläufig weg. Es ist nur noch ein Rauschen, das das Gehirn einlullt. Besonders eindringlich wird das deutlich, wenn unerwartet ein zentraler Fokus entsteht, indem die Beats von Gigi D’Agostinos Euro-Dance-Knaller „L’amour Toujours“ die bis dato komplexen Sounds unterbrechen. Da lässt sich ausgelassen mitfeiern. Vorausgesetzt, man ignoriert den Text, den Giulia Russo fröhlich ins Mikro schmettert. Da ist nämlich nichts mehr von ewiger Liebe und Treueschwüren übrig. Stattdessen singt sie von Booten, die gestoppt werden sollten. Sollen „die“ doch ertrinken. Aua. Aber wen interessieren denn schon Songtexte?! Hat doch eh keiner Zeit für.
Alessandro mutiert zum völlig überdrehten Boxer, der Giulia Russo herausfordern will. Die aber ignoriert ihn komplett. Das könnte auch an der Aufschrift des Labels an seinen Boxershorts liegen: „Hot Mess“. Das wäre auch kein schlechter Titel für diese Arbeit.
So oder so ist Giulia Russo plötzlich eine Katze, die mit ihren gruselig echt klingenden Miau-Tönen schließlich Billie Eilishs „What was I made for“ singt. Ja, auch das ist ein TikTok-Trend. Dabei liegt die Ironie hier in der Umkehrung der Verständnisfrage: Wer das nicht erkennt und damit nicht versteht, ist in diesem Fall auf der sicheren Seite. Dann ist man, hoffentlich, noch nicht TikTok-süchtig.
Immer weiter geht das. Ohne Unterbrechung. Das ist für das Publikum so anstrengend wie für die Tänzer*innen. Es gibt kein Entkommen aus dieser Endlosschleife. Es sei denn ...
„Hype the Pain“ findet zu einem wunderbaren Ende, das wiederum für den typisch ironischen Ansatz der gesamten Arbeit steht. Urplötzlich wird das Licht deutlich gedimmt. Alle halten inne und schauen ziemlich blöd aus der Wäsche. Akkustand 5 Prozent. Mist! Und jetzt?
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