Eindeutig auf dem Weg nach oben
Das Bundesjugendballett präsentiert „Im Aufschwung IX“
Die Tragödie „Lulu“ von Frank Wedekind hat schon einige Künstler*innen herausgefordert – sie wurde als Schauspiel (unvergessen die Version von Peter Zadek 1988 mit Susanne Lothar und Ulrich Wildgruber am Deutschen Schauspielhaus), Oper (von Alban Berg) und eben auch als Ballett (z.B. 2003 von Christian Spuck mit dem Stuttgarter Ballett und der unvergesslichen Alicia Amatriain) auf die Bühne gebracht. Jetzt hat sich Hamburgs Erster Solist Edvin Revazov des Themas angenommen. Er ist künstlerischer Leiter des Hamburger Kammerballetts, einem sechsköpfigen Ensemble aus Ukraine-Geflüchteten, das nach Kriegsbeginn 2022 gegründet wurde. Revazov stammt selbst aus dieser Region. Er wurde in Sebastopol auf der Krim geboren und tanzt seit 2003 beim Hamburg Ballett, seit 2010 als Erster Solist. Seine Begabung als Choreograf hat er schon mehrfach unter Beweis gestellt, zuletzt in der Hamburger Elbphilharmonie mit „Kintsugi“ und „Silentium“.
Keine voyeuristischen Einblicke
Innerhalb von nur zwei Wochen brachte Edvin Revazov jetzt die tragische Geschichte der Lulu in einer höchst bemerkenswerten, ganz neuen Fassung auf die Bühne des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters, dessen Intendantin Isabella Vertes-Schütter schon dem Bundesjugendballett eine neue Heimat geboten hat. Neben der Choreografie zeichnet Revazov auch für die schlicht-eleganten Kostüme und ein raffiniert einfaches Bühnenbild verantwortlich; das gekonnte Lichtdesign stammt von Joshua Paul.
Es ist eine Version, die dem Publikum nicht etwa voyeuristische Einblicke bietet in eine Frau, die den Männern den Kopf verdreht. Vielmehr zeichnet Revazov seine Lulu als lebensfrohe, lustvolle, experimentierfreudige junge Frau, die gegen Konventionen angeht und ihr eigenes Leben leben will. Dass sie letztlich doch scheitert, liegt an der männerdominierten Gesellschaft, die eine derart selbstbewusste weibliche Rebellion nicht duldet. Weshalb bei Revazov Lulu nicht von einem einzelnen Verbrecher in Person von Jack the Ripper umgebracht wird, sondern durch die patriarchale Gesellschaft als solche – verkörpert durch drei gleich angezogene Männer mit grauem Jackett und Melone. Revazov wurde dabei inspiriert von der Schauspielerin Louise Brooks, die 1929 die Lulu in dem Film „Die Büchse der Pandora“ verkörperte, und, so heißt es im Programmzettel, „Lulu zu einer Figur von erschütternder Menschlichkeit machte – faszinierend, verletzlich und kompromisslos zugleich.“
Revazovs Kraft liegt in einer ganz eigenen, vielgestaltigen Bewegungssprache mit spannenden, teilweise atemberaubenden Pas de Deux und Soli. Und sie liegt in der Ausdrucksstärke und technischen Brillanz der Tänzer*innen. Allen voran die 23-jährige Viktoriia Miroshyna als Lulu, die ihrer Figur neben einer strotzenden Lebenslust und unbekümmerten Freude an Sexualität eine wunderbare Sensibilität und Zartheit verleiht. Selbstbewusst setzt sie sich über einengende Normen und Konventionen hinweg, sie weiß durchaus um ihre weiblichen Reize und setzt diese auch bewusst ein. Damit elektrisiert sie die Männer, verkörpert durch Oleksiy Grishun, Ihor Khomyshchak und Vladyslav Bondar, verstärkt durch den früheren Hamburger Tänzer Nicolas Gläsmann, der hier als eine Art „Dr. Schön“ mit großer Ausdruckskraft glänzt. Eindrucksvoll auch Alisa Nikitina als Lulus Freundin.
Die gekonnte Musikauswahl – ein Mix aus Lou Reed mit Metallica und verschiedenen Kompositionen Alban Bergs (darunter das Violinkonzert in einer großartigen Aufnahme mit Anne-Sophie Mutter) tut ein Übriges, um aus diesem anderthalbstündigen Stück ein besonderes Erlebnis zu machen. Das Publikum im ausverkauften Theater honorierte das mit langanhaltendem Beifall für alle Beteiligten.
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