„Corps de Walk“, Choreografie von Sharon Eyal und Gai Behar

Dancers, Aliens, Humans

Das Hessische Staatsballett zeigt Sharon Eyals Signaturstück „Corps de Walk“

Einheit und Individualiät, das ist der große Kontrast in Sharon Eyals Tanzstück, das vor 14 Jahren vom Norwegischen Nationalballett uraufgeführt wurde. Bruno Heynderickx hatte es damals beauftragt und jetzt zum Saisonstart nach Wiesbaden gebracht. Doch funktioniert es überhaupt noch?

Wiesbaden, 08/09/2025

In der Grünanlage hinter dem Hessischen Staatstheater lärmen die wildlebenden grünen Papageien, längst ein Wahrzeichen der hessischen Landeshauptstadt. Drinnen geht die Geräuschkulisse nahtlos weiter: DJ Ori Lichtik lässt seine musikalische Produktion mit Vogelgezwitscher beginnen, während die zwölf Tänzer*innen, kreisförmig ineinander verflochten, zu einem einzigen organischen Körper verschmelzen. „Corps de Walk“ heißt das Stück der israelischen Choreografin Sharon Eyal – ein französisch-englisches Wortspiel, das Ballettstandards und Alltagsbewegungen in einen unerwarteten Zusammenhang bringt.

Gerade der Umgang mit dem Corps de Ballet ist zur Gretchenfrage des klassischen Balletts geworden. Es ist noch nicht allzu lange her, dass in klassischen Kompanien möglichst genaue Durchschnittsmaße ein Aufnahmekriterium für künftige Gruppentänzer*innen waren: Größe, Arm- und Beinlänge, sogar das Verhältnis Ober- und Unterschenkel wurden mit dem Zollstock vermessen. Ausgesucht gleichförmige Tänzer*innen unterstreichen die schöne, inhaltsleere Symmetrie von Gruppentänzen, die nur zum Zweck optischer Gefälligkeit choreografiert wurden – jedenfalls aus der Sicht der Kritiker dieser Kunstform, die hinter diesem Anspruch an das Corps de Ballet ein überholtes Menschenbild sehen.

Einheitslook und Diversitätsfeier

So einfach macht es sich Sharon Eyal nicht. Ihr „Corps“ besteht aus lebendigen Körpern, die in hautfarbenen Bodys, mit weißen Kontaktlinsen und enganliegenden Einheitsfrisuren zugleich an androgyne Aliens und futuristische Marionetten erinnern. Doch feiern sie in ihren gänzlich unterschiedlichen Körpern menschliche Diversität. Genauso weit gespannt ist das Bewegungsmaterial, das die israelische Starchoreografin so mühelos zusammenbündelt, dass es eine eigene Selbstverständlichkeit entwickelt: Das dominierende Laufen steigert sich zu exzessivem Marschieren, gebrochen durch klassisches Ballettvokabular und heidnisch anmutende Fruchtbarkeitsrituale. Die roboterhaften Unisono-Szenen, in denen das Ensemble des Hessischen Staatsballetts seine Klasse unter Beweis stellte, entfalten einen magischen Sog. Gebrochen wird er durch explodierende Bewegungsenergie in direkten Begegnungen und einzelne individuelle Ausbrüche – mal groß und augenfällig, mal klein und subtil. Unterdessen changiert die vom unerbittlich fordernden Rhythmus geprägte Musik zwischen elektronischem und synthetischem Beat, aufgebrochenen melodischen Fragmenten und hypnotischem Clubsound.

Wie aus einer Gruppe fremdartiger Wesen ein einziger lebendiger Körper wird, in dem die Einzelnen trotzdem ihre Individualität nicht aufgeben müssen – diese Erfahrung teilt auch das Wiesbadener Premierenpublikum mit hörbarer Begeisterung. Man kann sich vorstellen, was vierzehn Jahre zuvor die Besucher des modernen Norwegischen Nationalballetts Carte Blanche gefühlt haben, als diese Produktion ihre Uraufführung erlebte: „A star is born,“ jedenfalls einer am Choreograf*innenhimmel im zeitgenössischen Ballett-Universum. „Corps de Walk“ markierte einen Meilenstein in der Karriere von Sharon Eyal und wurde zu ihrem Signaturstück. 

Seitdem sind die hautengen Bodysuits, der hochmoderne Sound von Ori Lichtik, vor allem aber die spannungsreiche choreografische Auseinandersetzung um Gleichförmigkeit und emotionale Individualität zum Must Have der internationalen Festivalszene geworden. Sharon Eyal hat Preise aller Art abgeräumt, und mit „Soulchain“ der Kompanie tanzmainz in Wiesbadens Nachbarstadt ein internationales Erfolgsstück beschert. „Corps de Walk“ war eine Auftragsarbeit Carte Blanche, damals unter der Leitung von Bruno Heynderickx. Heute ist er Direktor des Hessischen Staatsballetts und hat das Stück sozusagen persönlich heimgeholt. Von seiner hypnotischen Wirkung hat es in den seither vergangenen Jahren nichts verloren.

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