„glue light blue“ von Nadav Zelner. Tanz: Ensemble Hessisches Staatsballett

„glue light blue“ von Nadav Zelner. Tanz: Ensemble Hessisches Staatsballett

Tanzen bis zum Steinerweichen

Nadav Zelner kreiert für das Hessische Staatsballett in Wiesbaden „glue light blue“

Großen Wiedererkennungswert in den Zelner-Choreografien hat der intuitive, rasante Wechsel des unterschiedlichsten Bewegungsvokabulars.

Wiesbaden, 05/03/2024

Eine Arbeit für das Mannheimer Nationaltheater hat er mit „Well done“ überschrieben – und hatte dabei nicht nur ein augenzwinkerndes Klopfen auf die eigene Schulter im Sinn, sondern die Garstufen eines Steaks, an denen er die Stadien seines Liebeskummers festmachte. Den doppelbödigen Witz, die schnelle Intuition und das todsichere Gespür für dramatische Wirkung hat der israelische Choreograf Nadav Zelner – Zögling der Kibbutz Contemporary Dance Company– auch schon bei Eric Gauthier in Stuttgart mit der pink geprägten Tanzorgie „Bullshit“ unter Beweis gestellt. Für den neuen Tanzabend im Hessischen Staatsballett, der in Wiesbaden Premiere hatte, stand einmal mehr eine Grundfarbe Pate.

Etwas rätselhaft „glue light blue“ (hellblauer Klebstoff) heißt das gut 60 Minuten dauernde Stück, mit der Erklärung, dass sich die Farbe auf das fünfte Chakra – ein Energiezentrum in der asiatischen Kultur – bezieht. Es liegt im Hals etwas unterhalb des Kehlkopfs, und deswegen ist Kommunikation eines der bestimmenden Themen des Abends. Allerdings ist es eine anarchische, gerade erst am Anfang der Entwicklung stehende Sprache, die sich in einzelnen Lauten und explosiven Ausrufen Bahn schafft – Körpersprache und Mimik sind weiterentwickelt.

Alles hat beim Schnelldenker Nadav Zelner mindestens zwei Seiten, so auch das dominierende Hellblau, das durch eine intensive Rostfarbe schön in Schach gehalten wird. Bühne (Eran Azmon) und Kostüme (Maor Zabar) greifen dabei so perfekt ineinander, dass man die Ausstattung auf den ersten Blick in einer Hand wähnt. Die Bühne ist ein fiktionaler Zauberraum, eingerahmt durch halbhohe, rostige Eisenplatten und definiert durch eine Fülle von Steinen, die an Stahlseilen von der Decke hängen. Alle Teile sind beweglich – und die Steine tanzen in dieser Choreografie mit. Anfangs liegen sie am Boden und geben geometrische Pfade vor, in denen sich von überdimensionalen blau-rostfarbenen Kutten verhüllte Fabelwesen nur auf geraden Linien voranschieben können. Aufgedruckte Adern lassen an den Energiefluss, aber auch Verwurzelung denken; partielle Raffungen im Oberkörper- und Schulterbereich sowie Head-Buns für die Langhaarigen, krustige Borkenmasken für die Träger*innen von Kurzhaar oder Glatze verwischen jegliche Genderstereotypen. Die überlangen Ärmel spielen eine eigene Rolle im ersten Teil der Choreografie, in der Nadav Zelner die Überraschungseffekte der Kutten genüsslich ausspielt. Dabei kommt die Fülle extra großer Tänzer im hervorragend agierenden Hessischen Staatsballett ganz besonders zur Wirkung. 

Erst werden die Kutten abgelegt, später voluminöse Überhosen, bis zuletzt hautenge Bodies mit integrierten Handschuhen übrigbleiben. Zwischen kontemplativem Wasserplätschern und mitreißender arabischer Musik, zwischen effektvollen individuellen Mini-Geschichten und großen Unisono-Ensembleszenen lässt der Choreograf die zwanzigköpfige Truppe allmählich heimisch werden im Bühnenraum, in dem oft Tänzergrüppchen mit dem Rücken zur Metallwand kauern. Aber vom mitreißenden Drive der Gemeinschaft lassen sich selbst die Steine erweichen und tanzen über den Köpfen mit. Wiedererkennungswert in den Zelner-Choreografien hat der intuitive, rasante Wechsel des unterschiedlichsten Bewegungsvokabulars, in dem sich Alltagsbewegungen, Circus, Slapstick, Pantomime, Show, Sport, individueller Ausdruck und große Gruppenszenen verblüffend schlüssig zusammenfinden. 

Ein magischer Moment entsteht, als sich in der Gruppe ganz beiläufig, selbstverständlich und vertrauensvoll Pärchen finden – mit einer Selbstverständlichkeit, die man sich im realen Leben nur wünschen könnte. Danach ist wieder hinreißende Party auf der Bühne, am Ende gebührend gefeiert vom Wiesbadener Publikum.

Das Hessische Staatsballett ist vor zehn Jahren aus einem Zusammenschluss der Staatstheater Tanzsparten in Wiesbaden und Darmstadt hervorgegangen. Tim Plegge, der frühere Ballettdirektor und spätere Hauschoreograf ist 2022 gesundheitsbedingt ausgeschieden; seitdem arbeitet die Kompanie an einem neuen künstlerischen Profil. Plegges Nachfolge hat Bruno Heynderickx angetreten, der schon von Anfang an als Kurator für die Auswahl von Gastchoreografen mit an Bord war. Er setzt für die Zukunft ausschließlich auf Zusammenarbeit mit international renommierten Choreografen und vielversprechenden Newcomern. Das hat bereits im letzten Jahr mit der Produktion „Last Work“ von Choreografie-Legende Ohad Naharin bestens funktioniert. Schöner Zufall: die Nachbarschaft zum Staatstheater Mainz, wo das Konzept einer Kompanie ohne Chefchoreograf unter Tanzchef Honne Dohrmann Erfolgsgeschichte schreibt. Die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Sharon Eyal hat „tanzmainz“ in die erste Liga der zeitgenössischen Kompanien hierzulande katapultiert. Nadav Zelner hätte durchaus das Format, ein ähnliches Markenzeichen des Hessischen Staatsballetts zu werden. 

 

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