Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Es ist stockdunkel in der K6 auf Kampnagel, als tief im Hintergrund der Bühne ein diffus orangefarbenes Licht zu leuchten beginnt und zu impulshaften elektronischen Klängen (Musik: Thomas Bangalter) schemenhaft eine dunkle Gestalt aus dem Nichts aufsteigt. Langsam schreitet sie auf halber Höhe der Bühne entlang, fast könnte man meinen, sie schwebe, bis das Licht etwas heller wird und preisgibt, dass die Bühne einer sich nach hinten erhebenden und brechenden Welle gleicht, die nach vorn als schiefe Ebene abfällt. Wie in der Morgendämmerung wird es langsam etwas heller, weitere Gestalten kommen hinzu und bewegen sich langsam tastend, wie in Zeitlupe, zu den Impulsklängen über die schiefe Ebene nach vorne.
Es ist der meditative Beginn von „Mirage“, der 2024 in Japan erstmals gezeigten Kreation des französisch-belgischen Choreografen Damien Jalet und des japanischen Bildhauers und Skulpturkünstlers Kohei Nawa für das Ensemble des Grand Théâtre de Genêve. Und dieses meditative Setting markiert die Atmosphäre des ganzen gut einstündigen Werkes.
Mirage, das heißt übersetzt Trugbild, Fata Morgana, Lichtspiegelung, Illusion. Nomen est omen: Tatsächlich entfalten Jalet und Nawa hier zusammen mit dem ausgebufften Lichtdesign von Yukiko Yoshimoto und den 16 Tänzer*innen des Grand Théâtre de Genêve überaus wirkmächtige Effekte, die lange im Gedächtnis bleiben. Schon 2019 mit „Omphalos“ und 2023 mit „Planet {Wanderer}“ hatten alle drei Künstler das Kampnagel-Publikum in Bann geschlagen. Mit „Mirage“ gelingt ihnen das einmal mehr – alle drei Vorstellungen waren ruckzuck ausverkauft.
Zeichen aus fernen Welten
„Mirage“ teilt sich in mehrere große Abschnitte: Da ist der Beginn, ähnlich einem Sonnenaufgang, zu dem sich die tänzerische Gemeinschaft zusammenfindet und in langen Bewegungsschleifen ergeht, sich anzieht und abstößt, sich trifft und wieder auseinanderdriftet. Gefolgt von einer Gruppensequenz, wo sich alle zu einem Kreis am Boden zusammenschließen, einer am Meeresgrund siedelnden vielarmigen Seeanemone gleich, und mit Köpfen, Armen und Oberkörpern immer wieder neue Silhouetten formen, es ist ein einziges langgezogenes gemeinsames Körper-Atmen, bis sich die Gemeinschaft unter lauten, stampfenden Klängen auflöst und schlagartig das Licht erlischt. Als es wieder heller wird, sieht man, wie sich von hinten eine weiße Nebelwoge wasserfallähnlich über die schiefe Ebene ergießt und die vorn am Boden Liegenden nach und nach verschluckt.
Nur eine Gestalt kämpft sich durch den wabernden Schwall nach oben, wo sie sich langsam ins Nichts auflöst, während auf dem Wellenkamm jetzt eine andere Gestalt schemenhaft in einem schimmernden Lichtnebel erscheint. Verteilt über die Bühnenbreite leuchten fünf weitere Gestalten auf, keine davon ist wirklich, es sind Projektionen, Zeichen aus fernen Welten, die wiederum im Nichts verschwinden.
Bis auf einmal von oben ein Glitzerregen auf eine am Boden kauernde Gestalt herniederfällt. Sie bewegt sich langsam mit schlängelnden, räkelnden Verrenkungen auf der Stelle, den Sternenstaub empfangend, jede Stelle am Körper damit bedeckend. Weitere sechs silbrige und kupfern-goldene Glitzerschleier kommen hinzu, hüllen andere Figuren ein, bis sie sich zu zweit und dritt vereinigen und schließlich in einem großen Haufen miteinander verschmelzen.
Aus dem Zentrum löst sich eine Frau und bleibt als einzige sitzen, während ein neuer Glitzerregen auf sie niederprasselt, lauter dieses Mal, plätschernd, wie dicke Regentropfen, die auf harten Boden fallen. Stroboskop-Licht lässt sie noch unwirklicher erscheinen, sie verharrt am Boden, mit biegsamen Armen und geschmeidigem Oberkörper, wie eine indische Tempeltänzerin. Langsam nähern sich wie eine Riesenschlange von oben die anderen glitzernden Gestalten, gleiten sitzend langsam über die in Nebel gehüllte schiefe Ebene und bilden alle zusammen einen riesigen Tausendärmler und -füßler, der zu immer neuen, wellenförmigen Bewegungsformationen findet, bis irgendwann das Licht erlischt und die Musik in wenigen sanften Schlägen ausklingt.
Weniger Tanz, mehr Bilderrausch
Es dauert eine kurze Weile, bis sich das Publikum aus der Verzauberung löst und die Tänzer*innen ebenso feiert wie den Choreografen und die anderen Beteiligten. Zu Recht. Obwohl das Stück teilweise einige Längen hat, die es auszuhalten gilt (aber sind wir nicht alle viel zu ungeduldig geworden?), und auch, wenn es mehr Bewegungs- und Bilderrausch als wirklich Tanz darstellt, so erfordert diese Choreografie gerade deshalb eine immense Körperbeherrschung und vor allem Geschmeidigkeit und Koordination, die alle Bewunderung verdient.
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