Unerwartetes Requiem
„Nahaufnahme Boris Charmatz“, herausgegeben von Marietta Piekenbrock
„CLUB AMOUR. Café Müller / Aatt enen tionon / herses, duo“ und „Nelken“ vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch + Terrain Boris Charmatz bei ImPulsTanz
Wer kennt das Bild nicht: unzählige Kaffeehausstühle und Tische auf der Bühne verteilt. Ein in sich abgeschlossener Raum mit einer Drehtüre im Hintergrund. Rolf Borzik hat einen Raum geschaffen, der sich für Tanz eigentlich nur bedingt eignet. So stoßen die Tänzer*innen immer wieder gegen Stühle und Tische. Ein Tänzer ist daher immer wieder mit dem Weg- und Aufräumen beschäftigt. Eine Tänzerin mit roten Haaren, die leicht verwirrt wirkend durch diesen Raum läuft. Sie sucht Anschluss, aber findet diesen nicht. „Café Müller“ kann man durchaus als wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des Tanztheaters und als eines der wichtigsten Stücke von Pina Bausch bezeichnen. Sie selbst hat die Rolle der schlafwandelnden Tänzerin, die sich mit ausgestreckten Armen über die Bühne bewegt, immer wieder wo anstößt und nirgends ankommt, lange verkörpert. Nun ist die Rolle mit der Transgender-Tänzerin Naomi Brito besetzt.
„Café Müller“, entstanden 1978, wirkt heutig, begeistert noch immer und zeigt, wie Pina Bausch ihr Handwerk beherrscht hat. Und doch ist man von diesem Abend etwas enttäuscht. „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers!“ Oftmals wird dieser Satz Gustav Mahler zugeschrieben. Man hat das Gefühl, dass die Tänzer*innen sich die Choreografie nicht wirklich aneignen durften. Es entsteht der Eindruck, dass sie mehr die damaligen Tänzer*innen darstellen, wie sie diese Rollen tanzen. So wirkt – bei aller Zeitlosigkeit – das Stück leider dann doch museal und etwas schal. Anders dann aber eine Woche später „Nelken. Ein Stück von Pina Bausch“.
Ein Nelkenmeer
Auf der Bühne ein riesiges Feld aus 8.000 künstlichen Nelken. Peter Pabst hat ein ikonisches Bühnenbild geschaffen, das sich auf den ersten Blick für Tanz genauso wenig eignet wie das für „Café Müller“. Die Frauen wie so oft in edlen Abendkleidern, die Männer in Anzügen (Kostüm: Marion Cito). „Nelken“ ist 1982 zur Uraufführung gekommen, heute wird es mit dem Zusatz „Ein Stück von Pina Bausch“ gezeigt. Auch wenn es nicht ganz so zeitlos wirkt wie „Café Müller“, so verhandelt es Themen, die heute noch immer oder wieder aktuell sind. Zu sehen sind viele kleine Szenen, die aber ein großes Ganzes ergeben. Wieder geht es um zwischenmenschliche Beziehungen, die teilweise sehr gewalttätig wirken. Vier Stuntmen kämpfen auch immer wieder miteinander. Das Geschehen im Nelkenfeld wird von zwei deutschen Schäferhunden beobachtet. Immer wieder fordert ein Tänzer die Darsteller*innen auf, ihren Pass vorzuweisen. Die Tänzer*innen sind auf der Bühne Menschen: Sie lachen, weinen, schreien ... und können sich mit den dargestellten Figuren identifizieren.
Die Einstudierung von 2024 hält sich sehr genau an das Original, nur die letzte Szene ist angepasst: Da erzählen die Tänzer*innen, warum sie eigentlich mit dem Tanzen begonnen haben. Auch der Satz „Frau Bausch wollte das so!“ wurde nicht neu hinzugefügt. Ebenso haben bereits 1982 die Tänzer teilweise Abendkleider getragen.
Bewegungsstudien
Boris Charmatz, der kürzlich nach nur zwei Jahren seinen Vertrag als Leiter des Tanztheater Wuppertal vorzeitig auflöste, hat unter dem Titel „CLUB AMOUR. Café Müller / Aatt enen tionon / herses, duo“ auch zwei seiner Arbeiten aus den 1990ern gezeigt. Eine Zusammenstellung, die nicht unbedingt nachvollziehbar ist. Das Publikum hatte auch die Möglichkeit, nur „Café Müller“ zu sehen.
Auf einem dreistöckigen Gerüst tanzen eine Frau und zwei Männer. Alle drei sind nur mit einem weißen T-Shirt bekleidet. Sie stehen übereinander und somit in keinem Bezug zueinander. Die Choreografie erinnert mehr an Bewegungsstudien und wirkt teilweise improvisiert. Das knapp 40-minütige „Aatt enen tionon“, 1996 kreiert, kann allerdings als eine Referenz an unsere Gesellschaft, in der eher nebeneinander als miteinander gelebt wird, gesehen werden.
„herses, duo“ aus dem Jahr 1997 ist eine sehr intime Choreografie für eine Tänzerin und einen Tänzer. Die beiden wirken entrückt, tanzen nur für sich. Es geht ihnen nicht um die Unterhaltung des Publikums, das in einem sehr engen Kreis das Paar umschließt und somit stark in eine voyeuristische Rolle gedrängt wird.
In allen vier genannten Stücken stellen sich die beeindruckenden Tänzer*innen mit viel Verve den unterschiedlichen Herausforderungen. 2027 soll das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch wieder bei ImPulsTanz gastieren. Man darf sich bereits jetzt darauf freuen, hofft aber, dass dann nicht nur ein Werk von Pina Bausch gezeigt werden wird, sondern auch eine neue Kreation, die für dieses sehr diverse Ensemble entstanden ist.
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