Ein tiefes Ausatmen
„Im Puls“ von Natalie Wagner an den Landesbühnen Sachsen, Radebeul
Was kann man da nicht alles falschmachen! „Carmen“ ist thematisches Glatteis par excellence. Rote Kostüme? Check. Rüschen, Bolerojäckchen? Check, check. Und dann gleich zu Anfang sogar noch sowas wie ein angedeuteter Stier. Also in Hochgeschwindigkeit volle Breitseite ins Spanien-Flamenco-Klischee? Nicht Mit Natalie Wagner. Ihr neuer zweiteiliger Tanzabend „Carmen – Bolero“ an den Landesbühnen Sachsen greift zwar in die Tradition, aber mit feinem Fingerspitzengefühl.
Gleich zu Beginn bildet das Ensemble in zwei verlängerten Linien aneinandergelegter Arme zwei überdimensionierte Stierhörner. Dieses riesige Wesen konfrontiert eine männliche Figur auf herausfordernde wie provozierende, und ja: angsteinflößende Weise. Es ist aber nur ein Bild und löst sich schnell wieder auf. Was bleibt, ist eine Emotion. Und das ist der Ansatz der 50-minütigen „Carmen“. Es braucht hier keine Handlung. Immer wieder kann man zwar zwei Figuren lesen, die Carmen und Don José sein können, aber sie sind multipliziert, werden von mehreren Tänzerinnen und Tänzern verkörpert. Was sie durchleben, ist ein Miteinander, dass immer emotionaler wird und sich immer weiter in Macht und Kampf und Machtkampf steigert. Davon bleibt niemand verschont.
Bizet neu hören?
Das orientiert sich musikalisch zwar an den bekannten Melodien Bizets, aber die hört man hier ganz neu. Peter Andersohn hat mit hörbarem Selbstbewusstsein ausgehend von der bekannten Grundlage eine völlig eigenständige Komposition speziell für diese Choreografie geschaffen, die auch vor klanglichen Experimenten nicht zurückschreckt. Dass er deren Uraufführung hinter der Bühne erlebt hat, lässt sich nicht ausschließen: Peter Andersohn ist an den Landesbühnen als Inspizient angestellt.
Katharina Andes hat dazu blutrote Kostüme geschaffen, die mit eben jenen Rüschen und Anleihen an Bolerojäckchen fröhlich Herkömmliches zitieren, aber ausgelassen jeder Tänzerin und jedem Tänzer individuelle Entwürfe auf den Leib geschneidert. Ihr Bühnenbild ist ebenso clever. Ein Kreiselement, das an eine (Stier-)Arena erinnern mag, als schräge Ebene, flexibel aus einzelnen Modulen zusammengefügt, die im Verlauf des Abends so zerlegt werden, wie die Emotionen aus dem Ruder laufen.
Mit der Individualisierung durch die Kostüme vermeiden auch die Choreografie und der dramaturgische Ansatz eine geschlechtliche Dichotomie. Wer wen wie provoziert und schlussendlich tötet, das ist nicht entscheidend. Schließlich ist es immer ein falscher Ansatz, mit Schuldzuweisungen zu arbeiten. Entscheidend ist die menschliche Psychologie ganz allgemein. Das Sterben, es ist damit Teil eines Prozesses, der alle und jeden betrifft.
Eine Weiterführung der „Carmen“
Auf beeindruckend clevere Weise fügt Natalie Wagner mit ihrem Ensemble als zweiten Teil Ravels unwiderstehliche musikalische Eskalation nicht einfach nur hinzu. Auf geradezu verblüffend simple Weise knüpft sie an den ersten Teil an und macht den „Bolero“ zu einer Art Meta-Diskussion und Fortführung ihrer „Carmen“. Deutlich stärker ins Abstrakte gedreht sind die Individuen des ersten Teils verschwunden. Übrig geblieben ist eine organische Masse, deren Einzelteile miteinander verwoben sind. Als würde sich langsam eine riesige Blüte öffnen, biegen sich die Tänzerinnen und Tänzer. Es ist nicht mehr das Hier und Jetzt von vorhin. Es ist ein „Woanders“. Die Bewegungen kommen jetzt nur noch aus dem Oberkörper heraus. Rot sind nur noch die Hosen. Die Oberkörper sind frei. Ein tiefes Atmen ist zu hören, dann ein einsetzender Herzschlag, der, schneller werdend, schließlich in den Rhythmus des „Bolero“ übergeht.
Und diesem Rhythmus konnte sich das Ensemble zur Premiere sichtbar nicht entziehen. Mit einem Energielevel von 125 Prozent jagen sie über die Bühne, als wollten sie den Rhythmus überholen.
Natürlich ist der „Bolero“ musikalisch eine sichere Bank. Was die Tänzerinnen und Tänzer hier aber daraus machen, ist der eigentliche Treibstoff. Seit Corona können die Reaktionen eines Theaterpublikums nicht mehr verlässlich als Indikator gelesen werden. Standing Ovations sind zu jeder Vorstellung an der Tagesordnung, unabhängig von der Qualität einer Arbeit. Der Applaus zur Premiere am Freitag in Radebeul aber fiel auffallend herzlich aus. Und diese Standing Ovations, die waren auf jeden Fall ziemlich ernst gemeint.
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