Viermal Rousseau und zwei Glücksfälle
Schweizer Tanzkompanie Cie. La Ronde zeigt im Theater Winterthur „4 x Rousseau“
Cathy Marston, Direktorin des Balletts Zürich, ist eine hervorragende Netzwerkerin. Ihre Kontakt-Neugier führte dazu, dass sie und ihr Kreativteam sich mit Klima-Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Prof. Chris Luebkeman von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich trafen. Man tauschte wissenschaftliche und künstlerische Kenntnisse aus, schmiedete gemeinsame Pläne. Im Opernhaus entstand daraus eine Uraufführung des Junior Balletts mit drei Stücken zum Thema Klimawandel. Sammeltitel: „The The Butterfly Effect„ – kleine Ursachen, große Wirkung.
Es habe sie gereizt, trockene Informationen in etwas Emotionales zu übersetzen, sagt Marston. Ihre Choreografie „A Question of Time“ bildet den Auftakt des neuen Programms. Versonnen tanzt ein Solist vor sich hin, dann folgen erste Paare, die Frauen auf Spitze. Alle in knappen schwarzen Kleidern. Noch herrscht Harmonie. Bis der Raum zu voll wird, die Begegnungen entarten, hektisch und bedrohlich werden. Chaos bricht aus. Die Musik wird dissonanter. Der Takt eines Metronoms, das zuerst diskret gleichmäßig schlägt, wird immer schneller, der Ton lauter, einmal von einer Sirene unterbrochen.
Derweil pendelt im Hintergrund ein weiß gekleideter Mann auf einer Schaukel hin und her. Gegen Ende des Balletts richtet er sich auf, steigt auf die Bühne herab, hilft den Tänzerinnen, die bereits aus dem klassischen Kanon gefallen und von den Spitzenschuhen gekippt sind, zurück ins Gleichgewicht. Doch er sucht vergeblich, Ruhe ins Chaos zu bringen. Atemnot breitet sich aus. Am Schluss liegen alle tot am Boden. Ende einer Zeitepoche. Ein neuer Mann, diesmal in Schwarz, löst den Mann in Weiß ab.
Zweimal Contemporary Dance
„A Question of Time“ ist ein perfekt kreiertes Ballett – ein kleines Meisterwerk. Weniger perfekt, aber begeistert und begeisternd getanzt, sind die beiden Stücke von Lucas Valente und Ihsan Rustem. Sie verwenden keine klassischen Tanzelemente mehr, sondern verschiedene Formen von Contemporary Dance. Zwei Ballette, zwei Works in Progress.
Lucas Valente, erfahrener Tänzer im Ballett Zürich, nennt sein Stück „Point of no Return“ und deutet damit auf eine unumkehrbare Klimakatastrophe hin. Die 14 Tänzer*innen interpretieren seinen sportlichen, etwas eckigen, die Arme betonenden Stil mit großem Einsatz. Auffallend, wie erfolgreich die Gesamtgruppe jene Szenen bewältigt, die alle gemeinsam parallel zu tanzen haben. Inhalt und Aufbau des Stücks kann das Publikum allerdings nur vollständig erfassen, wenn es zuvor Valentes Einführung im Programmheft gelesen hat. Es geht nämlich um die vier Jahreszeiten, die unter dem Klimawandel leiden: der Sommer mit Hitzewellen und Waldbränden, der Herbst mit Stürmen und Regenfällen. Hoffnung bringt dagegen immer noch der Frühling.
Etwas diffus liest sich auch Ishan Rustems Programmtext zu seinem Stück „What if?“. Ärger erregt dann ein langer, unverständlich hingemurmelter Text, der das Stück begleitet. Was ist der Inhalt, von wem stammt er? Eindrücklich aber auch hier die Vitalität der Tänzer*innen. Vor allem die Männer können sich von ihrer besten Seite zeigen, einzeln und in Gruppen. Voller Einfälle ein Duett zwischen Lucas van Rensburg und Makani Yerg. Die beiden werden im Programmheft namentlich hervorgehoben, während die übrigen Mitglieder des Junior Balletts nur pauschal nach dem Alphabet aufgeführt sind. Das ist schade, denn in allen drei Stücken gibt es herausragende Solist*innen.
Das Bühnenbild im Koffer
Am Anfang von „What if?“ sticht ein Tänzer in einen Ballon mit der Aufschrift „Ego“. Die Fetzen fliegen. Ein Lichtkreis an der Decke verbreitert sich zu einer Krone und scheint später so grell, als würde die Sonne explodieren. Es folgen Mond- und wieder Normallicht – man ist offenbar noch einmal davongekommen. In allen drei Stücken wurde das Bühnenbild von den jeweils Choreografierenden angeregt, verwirklicht hat sie Jörg Zielinski. Der soll einmal gesagt haben, das optimale Bühnendekor sollte man in einem Koffer transportieren können. So weit hat er es diesmal nicht gebracht, aber die Bühnenbilder sind so einfach wie aussagekräftig. Bereit auch für Gastspiele?
Die Musik erklingt ausnahmslos ab Tonträger und umfasst Anleihen etwa bei Charles Ives oder dem Minimalisten Louis Andriessen, meist aber bei weniger oder ganz unbekannten Komponist*innen.
Kopfschütteln und viel Applaus
Der Sammeltitel „The Butterfly Effect“ erinnert an die These, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien möglicherweise Wochen später einen Tornado in Texas auslösen könne. Oder laut Chaostheorie: Kleine Veränderungen in einem System können große und unvorhersehbare Auswirkungen haben. Negative vor allem, die auch zu einer Klimakatastrophe führen können. Aber es gibt auch Zeichen der Hoffnung.
Bei der Premiere der drei Uraufführungen auf der Großen Bühne des Opernhauses waren viele Junge dabei, nicht nur aus der Tanzszene. Auch etliche ETH-Leute saßen im Saal. Einer schüttelte nach der Vorstellung ratlos den Kopf. Ansonsten wurde das Junior Ballett aber mit sehr großem Applaus bedacht.
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