"Ort" von Kor‘sia 

Von der Kulturpolitik noch unberücksichtigt

„Ort“ und „Un-Zeit“ der Bremer Kompanie Of Curious Nature auf Tournee. Doch bald könnte Schluss damit sein.

Gibt es den nötigen Halt für Wechsel und Wagnisse? Ist Verlass auf innere Navigation im allgemeinen Orientierungsvakuum? Wie geht es weiter? Ein thematisch aktueller Doppelabend repräsentiert ebenso Unbehaustheit wie Aufbruchsvermögen.

Bremen, 22/02/2024

von Rainer Beßling

Wiederaufnahmen bilden Repertoire. Stücke verändern sich, Kontexte wechseln. Erst recht, wenn sie ihre Gegenwart repräsentieren und reflektieren. Vor fast zwei Jahren brachte die freie Kompagnie Of Curious Nature die Stücke „Ort“ und „Un-Zeit“ zur Uraufführung. Inzwischen ist eine neue Zeit angebrochen. Einstige lebensräumliche Koordinaten haben sich aufgelöst. Die Umbrüche und Erschütterungen der jüngsten Jahre steigern die Relevanz dieses Tanzabends. 

Eine an diesem Donnerstag beginnende Tournee der Produktion startete nun in Bremen.  Weiter geht es nach Wolfsburg, Rüsselsheim, Offenburg und Iserlohn. Nicht viele freie, zeitgenössische Kompanien können so viele Gastspiele tanzen.

Als Kulisse für „Ort“ wählt das Choreografen-Kollektiv Kor‘sia eine Wartestelle wie am Weg ländlicher Buslinien. Dunkel, unruhiges Flackern, elektrisierte Körper. Lichtspots gehen an und aus. Die Choreografen Antonio de Rosa & Matta Russo zeigen anfangs in schnell geschnittenen Standbildern wechselnde Konstellationen. Gestrandete Passagiere treffen aufeinander, verhalten sich zögerlich zueinander, verharren getrieben und vertrieben in Isolation. In einem ersten Solo eröffnet Alice Zucconi programmatisch Raumsuche und Standortversuche. Mit kreisenden Bewegungen ertastet und bildet die Tänzerin ihren Bezirk, Grenzen werden abgesteckt und aufgelöst, die Körperachse ist Stand- und Ausgangspunkt, Fluchtpunkt, aber auch Angriffsfläche. Vielstimmige Pendelbewegungen in Vertikale und Horizontale spiegeln einen nicht einzuhegenden vitalen Elan, zwischen Impuls, Innehalten, Rückzug, Erlahmen.     

Dach und Bank im Off sind ein Un-Ort, ein Transferraum. Dieser repräsentiert ebenso Unbehaustheit wie Aufbruchsvermögen. Gibt es den nötigen Halt für Wechsel und Wagnisse? Ist Verlass auf innere Navigation im allgemeinen Orientierungsvakuum? Überlebt Identität unter dem Regime des Beäugens? Das Publikum blickt auf einen metaphorischen Ort fremdbestimmter Vertreibungen, innerer Fluchten, tastender Verständigungen, aber auch auf einen realen Bezirk körperlicher Erfahrungen und Sprechweisen, wie sie nur der Tanz zum Ausdruck bringt. So zu erleben in einem vielschichtigen Trio von Kossi Alohou-Wokawui, Tereza Hloušková und Andrea Scarfi. Jede Szene eine neue Situation, ein neues Bild. Zu flüchtig um sie zu begreifen. Flut und Furor der Bilderwelten verkörpern den Realitätsüberschuss umweglos, ohne Kommentar, ohne Erzählbogen oder ausgeführt symbolische Form. 

Auch die Musik versagt sich einem Fluss und Kontinuum. Sie schafft Anfänge, einen Sog ins Offene, Finalisierung als Fragment. Die Tanzenden öffnen sich dem Anderen, verlieren sich wieder im Eigenen, werden gestützt und getragen, tragen und stützen in trudelnder Teilnahmslosigkeit. Das körperlich-räumliche Transitleben spiegelt und verstärkt sich in der pochenden, richtungslosen Schwebe der musikalischen Kürzelketten. 

Der Titel von Helge Letonjas Choreografie baut direkte Brücken zum Jetzt. „Un-Zeit“ - das Verneinungspräfix verknüpft das Fassungslose mit dem Fragilen und Flüchtigen, mit den Fliehkräften, die Individuum und Gesellschaft zerreißen. Auf der Bühne zeigt sich diese Referenz zur Realität schon auf formale Weise. Der Tanz besitzt eigene Schnittstellen, die häufig quer zur Architektur der Musik liegen. Die Körper bilden reibungsreiche Resonanzräume der Klänge. Die Tanzenden gleiten unter der Musik durch oder werden von ihr bedrängt. Es bilden sich zwei kontrapunktisch organisierte Stränge heraus, angetrieben von einer rhythmisch stark akzentuierten, kontrastreichen Komposition. Auf der Folie suggestiver Repetition differenzieren sie sich anschwellend harmonisch aus in bedrängende, bedrohlich wirkende tonale und klangliche Reibungen.   

Die Musikspur der eindringlichen Choreografie ist Henryk Goreckis 4. Sinfonie. Das Werk ist aus Gegensätzen gebaut. Die Präsenz eines erweiterten Orchesters und kammermusikalische Passagen lösen sich ab, wehmütige wechseln mit übermütigen Passagen. Aus einer klassischer Großform schälen sich ebenso Gebete wie Zirkusmusik heraus. Groteske Grimassen sind in ebenso heiligem wie bitterem Ernst grundiert.

Die Choreografie greift das Innige und das Grelle gleichermaßen auf, aber nicht imitierend, sondern reflektierend. Der Tanz agiert in den häufigen Generalpausen in eigener Körperrede. Er bildet den Resonanzraum zur Musik. Er bildet kommunikative Gesten und Gebärden und artifizielle Körperbilder aus. Dabei schöpft Letonja aus einem stilistisch breiten Spektrum tänzerischen Vokabulars. Die sehnenden und strebenden Bewegungen, impulsgesteuert und intuitiv, sind von Zögern begleitet. Die Betrachtung des eigenen Körpers bremst das Agieren. 

Soli, Duos, das mal chorischer Vielstimmigkeit, mal einem Unisono folgende Ensemble zeigen ausgefeilte Schrittfolgen, Hebefiguren, Passagen und Paraden. Zugleich klingt ihr offener Entstehungsprozess nach. Zum Ende steigert sich das Geschehen ins Expressive. Ein Kollektivkörper und ein Ereignisbündel wachsen und wuchern. Das Organische nähert sich dem Orgiastischen. Das Stück kehrt an den Anfang zurück und zeigt in der erschütterten Präsenz der Solistin das vorangegangene Drama. Notrufe einer Verschollenen oder Ertrinkenden sind sichtbare Signale. Das Stück macht deutlich, was an den aktuellen Abgründen neu ist: nicht nur unser Körper ist eine Eintagsfliege, auch unsere Weltzugänge und -zugehörigkeiten sind auf Sand gebaut.   

Die Bremer Kulturpolitik lässt in der aktuellen Haushaltsaufstellung Helge Letonjas Ensemble Of Curiuos Nature noch unberücksichtigt. In diesem Fall am maximal falschen Ort und zur Un-Zeit. Für den zeitgenössischen Tanz in Norddeutschland ist zu hoffen, dass hier nachgebessert wird. 

 

Of Curious Nature wurde aufgebaut als Herzstück des Tanzentwicklungskonzeptes TanzRAUM Nord, gefördert von 2019 bis 2023 von TANZPAKT – Stadt Land Bund und TANZPAKT RECONNECT. TanzRAUM Nord hat sich die Stärkung des Tanzes in Norddeutschland zum Ziel gesetzt. Der Verbund freier sowie städtischer Partner und Bühnen bildet ein breitgefächertes Netzwerk dem Tanz zugewandter Akteure, die mit dem Ensemble neue Impulse in der Region und weiter darüber hinaus setzen. Der Senator für Kultur Bremen fördert das Ensemble seit Beginn.

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