„La Fest“ von Eric Gauthier, Alessio Marchini, Natasha Te Rupe Wilson, Alberto Robert, Jonathan Reimann, Claudia Muschio, Yuriy Mynenko

Ein Kessel Buntes

Eric Gauthier debütiert mit „La Fest“ als Opernregisseur

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Stuttgarter Tänzer und Choreograf sich auch im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater mit einem Musiktheater bewähren sollte. Es gelang ihm mit Bravour und Grandezza.

Stuttgart, 17/02/2024

Man ist in Stuttgart an der Oper seit den Zeiten von John Cranko ja so einiges gewohnt an Publikumsansturm, aber das hat es wohl noch nie gegeben: Schon vor der Uraufführung waren sämtliche neun Vorstellungen von „La Fest“ im Dezember 2023 und Januar 2024 ratzfatz ausverkauft. Warum? Weil Eric Gauthier sein Debüt als Opernregisseur gab. Der ehemalige Tänzer beim Stuttgarter Ballett, Choreograf und seit 16 Jahren Chef von Gauthier Dance am Theaterhaus ist ein kreativer Tausendsassa. Ihm gelingt einfach alles. Nicht nur der Aufbau einer zweiten („Gauthier Dance“) und dritten („Gauthier Juniors“) Tanz-Kompanie neben dem weltberühmten Ensemble am Großen Haus, die Organisation von bisher vier internationalen Tanz-Festivals seit 2015 („Colours“, das fünfte wird 2025 stattfinden), ein vielbeachtetes 16-teiliges internationales Video-Projekt in der Corona-Krise („The Dying Swans“, das anschließend auch für die Bühne adaptiert wurde), um nur einige zu nennen. Jetzt also auch noch eine Oper. 

Es kam, wie es kommen musste: Die Stuttgarter*innen rissen sich um die Karten, obwohl noch keine*r so recht wusste, was sie bzw. ihn dort erwartete. Was „der Eric“ anpackt, konnte ja nur gut sein – so die einhellige Meinung. Und so wurde „La Fest“ tatsächlich nicht nur ein opulentes Fest, sondern auch ein rauschender Erfolg. Wieder einmal zeigte der 46-jährige Kanadier, wie gut er sich darauf versteht, Menschen zu begeistern. Diesmal nicht nur für den Tanz, sondern auch für das Musiktheater, die Oper. 

Er will etwas Eigenes

Als der Stuttgarter Intendant Victor Schoner Eric Gauthier vor geraumer Zeit fragte, welches Stück er inszenieren wolle, kam keiner der üblichen Publikumsmagneten zur Sprache, nicht „Aida“, nicht „La Traviata“, nicht „Norma“ und auch nicht „Madame Butterfly“. Eric wollte etwas Eigenes, vor allem wollte er ein junges Publikum für die Oper begeistern – auf seine ganz spezielle Art. Er bringt ein „Pasticcio“ auf die Bühne, einen „Auflauf“ also, oder besser: einen Kessel Buntes (eine zweite Bedeutung ist „Pfuscherei“ – davon kann hier jedoch keine Rede sein). Im Barock hatte das durchaus Tradition – da kam man im von Kerzen erleuchteten Theater zusammen und genoss Gesang, Musik und Tanz. Alles schön durcheinander. 

Und so beginnt „La Fest“ nicht erst auf der Bühne, sondern schon im goldverzierten 1. Rang-Foyer, wo eine große Tafel mit u.a. einem Plastik-Hummer aufgebaut ist, an der das geneigte Publikum Platz nehmen kann, um einen Apéritif zu schlürfen. Für einige wird auch ein roter Teppich ausgerollt, und ein Teil des Ensembles mischt sich in voller Barock-Montur unters Volk. Motto: Habt Spaß! Und so haben sich auch einige Zuschauerinnen tatsächlich in große Roben geschmissen, sodass man sich fragt: Haben wir schon Fasching? Nein, es ist nur Zeichen eines fröhlichen Übermuts, einer Freude am Verkleiden, am Zusammenkommen, am Lebendigsein. „La Fest“ feiert das Leben. 

Eric Gauthier als Conférencier

Und so herrscht schon eine gewisse ausgelassene Stimmung, wenn das Publikum seine Plätze einnimmt. Auf der Bühne machen sich Tänzer*innen warm, im Hintergrund spielt bereits ein Orchester. Und dann kommt Eric Gauthier selbst auf die Bühne, salopp gekleidet, als hätte er sich aus Versehen in der Tür geirrt. Alles geplant natürlich, denn jetzt entfaltet er seine besondere Begabung: Er ist ein begnadeter Conférencier. 

In dem nachfolgenden einstündigen Prolog stellt er alle Beteiligten vor. Die Sänger*innen durften sich eine Arie aussuchen, die ihnen besonders am Herzen liegt. Präsentiert werden jedoch nicht etwa die bekannten Belcanto-Koloraturen – es sind eher die vergessenen Kleinode der Opernliteratur, mit denen hier brilliert wird. Die Mezzosopranistin Diana Haller liefert sich mit Sopranistin Claudia Muscio ein fulminantes Streit-Duett, eine weitere Sopranistin (Natasha Te Rupe Wilson) singt im Duett mit Tenor Alberto Robert „Suivez les Lois“ von Jean Philippe Rameau, der Countertenor Yuriy Mynenko bringt ergreifend schön „Time stands still“ von John Dowland zu Gehör, der bestens aufgelegte Staatsopernchor intoniert mit Lalalala Vivaldis „Frühling“ und animiert das Publikum zum Mitsingen, der Tenor Alberto Robert bringt dem Publikum Atemübungen bei – eine gute Atemtechnik ist schließlich die Grundlage jedes Gesangs, und Bariton Yannis François legt ein Tänzchen aufs Parkett, schließlich war er mal Mitglied des Béjart Ballett Lausanne. 

Nach der Pause beginnt das eigentliche Stück

Gauthier stellt den Dirigenten und sein 40-köpfiges Orchester vor, das in der Continuo-Besetzung teilweise auf alten Instrumenten spielt, und lässt das Publikum entscheiden, ob der Maestro klassisch im Frack oder in Elton-John-Montur auftreten soll. Unter den acht professionellen Tänzer*innen ist auch ein preisgekrönter Breaker (Louis Buß), der den ganzen Abend über immer wieder mit seiner Virtuosität verblüfft. 

Und so geht die erste Stunde kurzweilig vorbei, bevor nach der Pause dann das eigentliche Stück beginnt: Eine 90-Jährige (Diana Haller) erinnert sich anlässlich ihres Geburtstags an die Feste ihres Lebens. Sitzt sie anfangs noch tattergreisig und pflegebedürftig im Rattan-Rollstuhl, verjüngt sie sich mit jedem Ereignis. Mehr als 30 verschiedene Musikstücke aus 150 Jahren (darunter Werke von Johann Sebastian Bach, Riccardo Broschi, Antonio Caldara, Francesco Cavalli, Georg Friedrich Händel, Reinhard Keiser, Henry Purcell, Jean-Philippe Rameau u.a.) haben Dirigent Benjamin Bayl und Eric Gauthier zusammengestellt, um das Kaleidoskop dieses Lebens aufzublättern. Und so reiht sich ein Event an das andere, vom üppigen Festmahl über die Hochzeit mit einer jungen Frau, die Party unter Jugendlichen bis hin zum Kindergeburtstag. Von einem etwas bemühten Flaschendrehen über Flüstertelefon, die unkaputtbare Reise nach Jerusalem und das Ablecken von Psychedelic-Fröschen ist alles dabei, was man so machte auf Partys, als man jung war in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Chor darf Twister spielen und verrenkt sich zu Musik von Händel – ein auf den Bühnen der Welt wohl einmaliges Ereignis und besondere Herausforderung an die Gelenkigkeit ...

Und natürlich wird auch getanzt – in verschiedenen Stilen, von klassisch bis modern und immer wieder gekonnten Breaking-Einlagen, die das Publikum jedes Mal zu Szenenapplaus hinreißen. 

In seiner Fülle ermüdend

Das ist alles ein bisschen sehr lang (Teil 2 dauert fast zwei Stunden, für die nächste Spielzeit hat Eric Gauthier eine gekürzte Version angekündigt), teilweise auch etwas bemüht und in seiner Fülle ermüdend, zumal man nicht so recht versteht, was die meist recht schwermütigen Texte über Lieb und Leid im Zusammenhang mit dem bunten Treiben aussagen sollen. Etwas befremdlich wirkt auch die Hochzeit der alten Dame (dann im mittleren Alter) mit einer jungen Frau, bei der man sich fragt: Sind das jetzt zwei Bräute bei einer Doppelhochzeit oder handelt es sich um eine lesbische Trauung? Etwas zu sentimental auch der Schluss, wenn Lia Grizelj vom Kinderchor der Staatsoper Stuttgart Charlie Chaplins „Smile“ anstimmt, die Geburtstagstorte in der Hand, und die alte Dame sich zum Sterben wieder in ihrem Rollstuhl niederlässt, bevor das Licht verlöscht. 

Trotz einiger Längen und vermeidbarer Albernheiten gehen alle Beteiligten in ihren Rollen vollkommen auf und liefern musikalisch ein köstliches Pasticcio des Barock. Susanne Geschwender hat ein effektvolles Bühnenbild konzipiert, Gudrun Schretzmeier die Kostüme. Und weil schon so viel gefeiert wurde, sollte es nach dem Schlussapplaus noch weitergehen: Lars Eidinger höchstpersönlich betätigte sich als DJ, allerdings waren die Bewegungsmöglichkeiten zwischen den Stuhlreihen im Parkett, in den Logen und auf den Rängen doch etwas sehr eingeschränkt, und so zündete diese Zugabe nicht wirklich. In den Rangfoyers, wo ursprünglich getanzt werden sollte, hatte der Denkmalschutz ein Veto eingelegt – man fürchtete um die dortigen Lüster. 

Eines dürfte Gauthier auf jeden Fall gelungen sein: Ein junges Publikum für die Oper, den Tanz und die Musik zu interessieren und zu zeigen, wie lebendig und vielfältig Bühnenkunst heute sein kann. Und wer keine Karten mehr bekommen hat, darf sich auf die TV-Aufzeichnung freuen, die irgendwann im April ausgestrahlt werden soll. 

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