„Contemporary Dance 2.0” von Hofesh Shechter, Tanz: Gauthier Dance

Im Bewegungsrausch

„Contemporary Dance 2.0“ von Hofesh Shechter bei Gauthier Dance in Stuttgart

Es ist ein einstündiger furioser tänzerischer Exzess, den der israelische Choreograf als Artist in Residence mit der Stuttgarter Kompanie einstudiert hat und der – brillant getanzt – Alt und Jung gleichermaßen begeistert.

Stuttgart, 09/07/2023

Nebel, nichts als Nebel erfüllt die Bühne in der T2 des Stuttgarter Theaterhauses, während sich das Publikum nach und nach auf seinen Plätzen einfindet. Man plaudert und scherzt in erwartungsvoller Vorfreude, ganz entspannt im Hier und Jetzt. Und dann – Bam! – geht es schlagartig los, erlischt das Licht im Zuschauerraum, erleuchten Scheinwerfer den Nebel von hinten, setzen stampfende Rhythmen ein (Hofesh Shechter zeichnet neben der Choreografie auch für die Musik verantwortlich) und entfesselt das achtköpfige Ensemble von Gauthier Dance einen so furiosen Bewegungstaumel, dass man kaum noch hinterher kommt mit Schauen und Staunen. Geschlechter spielen hier keinerlei Rolle mehr, was sich auch in der leger-normalen Kleidung ausdrückt (Kostümdesign: Osnat Kelner). „Contemporary Dance 2.0“ hat der israelische Choreograf Hofesh Shechter schon 2019 für die Tanzkompanie an der Göteborger Oper kreiert, man könnte aber meinen, es sei gerade erst für die Crew von Eric Gauthier im Stuttgarter Theaterhaus entstanden, so kongenial passt das Stück zu ihr. Und so entfaltet sich innerhalb der folgenden gut 60 Minuten ein ekstatisch-magischer Bewegungsrausch, von dem man kaum genug bekommen kann.

„Part 1: Pop“ heißt es, handschriftlich notiert, auf einem Schild, das ein Ensemblemitglied emporhebt. Lasziv bewegen sich die Tänzer*innen katzenhaft geschmeidig durch den Raum, schütteln die Gliedmaßen, lassen die Hüften kreisen, ebenso fest verankert im Boden wie dem Himmel nah. Sie umwerben einander, stoßen sich ab, finden sich erneut, paarweise, in Gruppen, bis sich alle wieder synchron bewegen, wellenförmig auf die Zuschauer zubranden oder sich zu zahllosen neuen Formationen finden. Trotz des hämmernden Sounds hat das eine schwerelose Poesie, eine filigrane Schönheit und eine spirituelle Tiefe, die immer wieder aufs Neue gefangen nimmt. Es ist ein Wogen und Wiegen und Fließen, ein Zusammenkommen und Auseinanderdriften, immer im harten und doch so ansprechenden Herzschlag-Beat der elektronischen Rhythmen.

Shechter hat das einstündige Stück in insgesamt fünf Teile gegliedert. Nach dem ersten folgt „Part 2: With Feelings“ – und wer gedacht hatte, dass die Musik jetzt weniger massiv wird, täuscht sich gewaltig. Die Gefühle äußern sich im Auftauchen aus dem und Entschwinden in den Bühnennebel, während „Part 3: Mother“ von Sehnsucht und Widerstand erzählt, von Geborgenheit und Einsamkeit, Respekt und Rebellion, Ruhe und Aufruhr, Verbindung und Ablösung, Liebe und Wut.

Zu „Part 4: Contemporary Dance“ wechselt dann plötzlich die Musik aus den hämmernden und stampfenden Rhythmen in das weiche, zärtliche, tiefgründige Air aus der 3. Suite für Orchester von Johann Sebastian Bach, das in Kombination mit diesem Tanz noch einmal ganz neu erscheint. Immer wieder schert jemand aus der Gruppe aus, um sich erneut einzuordnen, und gemeinsam stürmen alle wieder los in die neu aufbrausenden Rhythmen. Es ist ein einziges, euphorisches Sich-Aufbäumen in Bewegung, im Tanz, in der Gemeinsamkeit, bis alles – und man liebt in diesem Moment die Sentimentalität und Wahrheit dieses Songs – kulminiert in „Part 5: The End“ zu Frank Sinatras „My Way“.

Man kann die Aussage darin durchaus vieldeutig verstehen: Dieses Stück zeitgenössischer Tanz ist eben genau das, was Hofesh Shechter und seinen Weg auszeichnet: dieser mitreißende Bewegungstaumel, in den er uns zu versetzen vermag, gepaart mit einer leisen, liebevollen Zärtlichkeit für die sanften Töne, für das Veratmen einer Geste, einer Haltung. Und es steht auch für den Weg, den Eric Gauthier seit nunmehr 15 Jahren mit seiner auf inzwischen 16 Tänzer*innen angewachsenen Kompanie gegangen ist: konsequent der Qualität verpflichtet, immer mit dem Ziel, nicht nur die ohnehin eingeschworene Stuttgarter Ballett-Community zu begeistern, sondern sich neue Kreise zu erschließen, neue Geldgeber, neue Orte. „Tanzt, tanzt, sonst seid Ihr verloren“ hat die große Pina Bausch einst gesagt. Kaum jemand setzt das so brillant um wie Eric Gauthier, der mit seinem Ensemble inzwischen zweifellos zu den weltweit führenden Kompanien der modernen Tanzszene gehört. Auf die nächsten 15 Jahre!

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