„The Post-Queer Dilemma“ von Guy Marsan. Tanz: Ensemble

„The Post-Queer Dilemma“ von Guy Marsan. Tanz: Ensemble

Queere szenische Forschung

Ein Probenbesuch bei Guy Marsan auf Kampnagel

Am Donnerstag feiern der Hamburger Choreograf und sein Team mit „The Post-Queer Dilemma“ Premiere. Über die Suche des Teams nach dem Konzept des Post-Queeren.

Hamburg, 25/01/2023

Freitagnachmittag, sechs Tage vor der Premiere. Durchlaufprobe in der K1 auf Kampnagel. Seit gestern erst kann das Ensemble das Bühnenbild bespielen. Der Tanz und das Spiel der fünf Performer*innen wird durch diese räumliche Veränderung noch einmal maßgeblich beeinflusst. Der dramaturgische Bogen ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz zu Ende gebaut, die zahlreichen szenischen Einfälle und interessanten Fragestellungen, die Guy Marsan und seine Dramaturgin Sarah Drain mit dem Team aufwerfen, verweisen aber jetzt schon auf einen spannenden choreografischen Abend, der (post-)queere Beziehungen neu erforscht.

Seit mittlerweile 10 Jahren lebt Guy Marsan in Hamburg und arbeitet in diversen freien Tanz- und Theaterproduktionen mit. Sein Debut auf Kampnagel feierte er 2017 mit der Kompanie Beach Birds in „Beach Birds – Das Dancical“. 2021 war er Teil von Limited Edition, dem von K3-Tanzplan Hamburg organisierten Residenzprogramm für Hamburger Choreograf*innen, aus dem sein Solo „L’Après-midi d’une licorne“ entstand, das er seitdem beim Hamburger Festival Hauptsache Frei und für Gastspiele in der Schwankhalle Bremen wiederaufnehmen konnte. „The Post-Queer Dilemma“ ist Guys sechste in Hamburg entstehende Produktion.    

Den maßgeblichen inhaltlichen Impuls für die Produktion setzte Guys Begegnung mit dem Begriff des Post-Queeren in „Post-Queer Politics“ von David V. Ruffalo, in dem der kanadische Wissenschaftler Kritik an der aktuellen Verwendung des Queerness-Begriffs übt. Queerness werde heute als identitätsstiftende Gegenüberstellung zu Heterosexualität verwendet, wodurch sich erneut eine eigentlich zu überwindende Binarität einstelle. Laut Ruffalo müsste man unter dem Begriff des Post-Queeren vielfältige und fließende Identitäten verstehen, die sich von der Mitte heraus und nicht in gegenüberstehenden Polen konstituieren. Diese Erkenntnisse in Kombination mit Donna Haraways „Staying with the Trouble“ zeigten für Guy die Notwendigkeit, das Thema Queerness im Kollektiv zu hinterfragen und seine eigene Perspektive mit der anderer zu erweitern.

Die fünf Performer*innen und Musiker*in Toni Weiße hatten zuvor in dieser Konstellation noch nie zusammengearbeitet, fanden sich aber schnell als Gruppe zusammen und forschten im Kollektiv an szenischen Übersetzungen der Theorien von Ruffalo und Haraway. Elementar dabei war, so erzählt Guy, durch viele Gespräche Grundlagen zu schaffen, damit sich alle Beteiligten im gemeinsamen Prozess wohlfühlen. Das Ergebnis ist eine große Menge künstlerischen Materials, das sich aus den Ergebnissen zahlreicher kollektiver Übersetzungsversuche, Experimente und Improvisationen zusammensetzt. Was dem Publikum letztendlich präsentiert werden soll, sind keine festen Antworten auf die Fragen nach (post)-queeren Biografien und Beziehungen, sondern vielmehr fließende oder sich auch widersprechende Gefühle und Haltungen seitens der Performer*innen zu diesen großen Fragestellungen.

Diese Mischung aus Flow und Brüchen zieht sich als deutliches ästhetisches Prinzip durch die Choreografie. Immer wieder in der linken hinteren Bühnenecke startend werfen sich die Performer*innen episodenhaft von einem tänzerischen Experiment in das nächste. Mal erlaufen sie in ständigen Positionswechseln den Bühnenraum, mal fließen sie als kollektiver Körper mit Körperwellen auf dem Boden diagonal nach vorne, um direkt im nächsten Moment einen durch einen Lichtkegel markierten Catwalk entlangzugehen. Emotionale Momente wie eine gemeinsame Trauerszene wechseln sich ab mit humoristischen und spielerischen Momenten, wenn zum Beispiel ein riesiges, ambivalent zu interpretierendes Luftkissengebilde hereingetragen wird. Besonders erfrischend ist, dass sich Guy und sein Team nicht auf erwartbare queere Mittel verlassen, sondern über die 60 Minuten eine weitaus vielseitigere Szenen-Collage entwerfen.

Spannend bleibt, wie sich der Aufbau und die Abfolge der Szenen bis zur Premiere am Donnerstag noch verändert. Möglichkeiten gebe es viele, sagt Guy Marsan dazu und meint dabei nicht nur ästhetische Entscheidungen, sondern v.a. auch Konzepte von Identitätsbildung. Denn häufig erwische man sich bei dem Gefühl, binär zwischen zwei Optionen gefangen zu sein, völlig außer Acht lassend, dass es vielleicht noch viel mehr Optionen geben könnte.  

„The Post-Queer Dilemma“ von Guy Marsan vom 26. bis 28. Januar, jeweils 20:15 Uhr, K1 auf Kampnagel, weitere Infos unter www.kampnagel.de 
 

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