„L’Après-midi d’une licorne“ von Guy Marsan. Tanz: Guy Marsan

„L’Après-midi d’une licorne“ von Guy Marsan. Tanz: Guy Marsan

Von Einhörnern, Pferden und Volkstänzen

Tanz in der ersten Woche beim Hauptsache Frei Festival

Das Festival der freien darstellenden Künste Hamburgs begeistert mit konzeptionell und choreografisch starken Tanzproduktionen.

Hamburg, 27/06/2022

Seit 2015 bietet das Hauptsache Frei Festival Hamburger freien Künstler*innen eine überregionale Plattform zur Präsentation ihrer Arbeit und Fachleuten aus ganz Deutschland die Möglichkeit zur Vernetzung und zum inhaltlichen Austausch. Als Mitglied der Festivalfriends, einem Verbund regionaler Festivals der freien darstellenden Künste, bemüht sich Hauptsache Frei darüber hinaus um einen intensiveren Dialog und eine stärkere Verbindung der freien Szenen in Deutschland. Neben einem umfangreichen Rahmen- und Diskursprogramm steht während der zwei Festivalwochen selbstverständlich die Präsentation aktueller ästhetischer und inhaltlicher Strömungen, die die Hamburger Szene beschäftigen. Die drei Tanzproduktionen, die das Team um die künstlerischen Leiter*innen Jens Dietrich und Christine Grosche in der ersten Woche der achten Ausgabe des Festivals gezeigt haben, bestechen dabei eindrucksvoll durch ihre gesellschaftspolitische Relevanz, choreografische Qualität und künstlerische Vielfalt.

Den Anfang am Donnerstagabend machte der franko-kanadische Performer, Tänzer und Choreograf Guy Marsan mit seinem Solo „L’Après-midi d’une licorne“ („Der Nachmittag eines Einhorns“). Ausgehend von Vaslav Nijinskys Ballett „L’Après midi d’une faune“ („Der Nachmittag eines Fauns“) begibt er sich auf eine Suche nach sich selbst im Komplex von Normen und Konventionen des klassischen Tanzes und der Sexualität. In der römischen Mythologie galt ein Faun als Waldgeist, der in Kunst und Literatur häufig als Symbol hemmungsloser sexueller Triebhaftigkeit diente. Und so erzählt Nijinskys Ballettstück die Geschichte eines jungen Fauns, der erregt mehreren Nymphen nachstellt. Bei Guy Marsan dient nun das Einhorn als Verbildlichung der queeren Umkodierung sexueller Begierde.

Zu Beginn trabt der Performer in grauer Jogginghose, einem scheinbar gelben Tanktop und einer Einhornmaske über die Bühne. Die Arme in geometrischen Haltungen von sich gestreckt bleibt er dabei zunächst stets in seitlicher Position, fast wie eine Figur auf einer Vasenmalerei. Naturgeräusche, angereichert mit sphärischen Gesängen sind über die Lautsprecher zu hören, „das Einhorn“ findet immer mehr in Sprünge, während der Satz „It’ll soon be summer“ erklingt. Nach einer Weile nimmt Marsan die Einhornmaske ab, fährt einen Rollwagen mit Requisiten herein und zieht ein semitransparentes Tuchgebilde auf den Bühnenboden, das in der Mitte einen Pavillon zeigt und im Laufe der Performance die unterschiedlichsten Verwendungen erfährt.

Begleitet von einem Score zwischen klassischer Musik und intensiv wummernden Elektrobeats wirft er sich daraufhin in ein abwechslungsreiches Spiel auf der Suche nach einer eigenen authentischen Ausdrucksform. Rudimente klassischer Choreografien tauchen auf, werden aber schnell vom Körper wieder abgestoßen. Später zieht sich Marsan High Heels an, nutzt seine Turnschuhe als Vorderhufe und das Tuchgebilde als überdimensionalen Rock und beginnt, so als Einhorn zu posen und zu laufen. Aber auch hier scheitert er, fällt aus seinen Schuhen, stürzt schließlich. Weder in den Normen des klassischen Tanzes noch in den stereotyp mit Queerness assoziierten Bildern wie einem regenbogenfarbenen Dildo oder dem gelben Tanktop, das sich als gelber Body entpuppt, scheint sich der Performer zu finden. Und so stellt sich am Ende eine große Erleichterung und tiefe Berührung ein, wenn Guy Marsan alle Requisiten und damit Fremdmittel auf dem Tuch deponiert, an die Bühnendecke zieht und nun – abseits von queeren Normen und Klischees – mit ausdrucksstarkem Gesicht und expressiven Armen in eine ihm eigene, unverfälschte Bewegungssprache findet.

Gerade durch das Wechselspiel von berührenden und bedrückenden Momenten – wenn etwa Guy Marsan zu einem intensiven Beat mit den Lyrics „Fuck the system“ zitternd-animalisch einen inneren Schmerz heraustanzt – und leichten, humorvollen Sequenzen, kann „L’Après-midi d’une licorne“ sowohl konzeptionell als auch emotional vollends überzeugen. Besonders komisch ist der Moment, in dem Guy Marsan versucht, einen regenbogenfarbenen Dildo an seinem Körper zu befestigen. Wo es schließlich gelingt, ist an der Fußsohle. Allerdings kann er dadurch nur noch auf einem Bein hüpfen.

Das Stück endet, wie es angefangen hat. Mit dem Performer, der als Einhorn seitlich über die Bühne trabt. Allerdings ist dieses Einhorn in seiner Orientierung und der Suche nach sich selbst, schon ein ganzes Stück weiter als das Einhorn am Anfang.

Nicht mit dem fantastischen Wesen des Einhorns, dafür aber mit dessen realer Grundlage – Pferden – setzt sich die mexikanische Choreografin und Performerin Yolanda Morales auseinander. Die Tiere dienen dabei als Symbol für den Schrecken, den die Eroberung Mexikos vor 500 Jahren für die indigene Bevölkerung bedeutete. Im vorkolonialen Mexiko gab es keine Pferde, und so stellten die großen Tiere eine zusätzliche Bedrohung dar, als sich die Weißen Tenochtitlan, die Hauptstadt des Azteken-Reichs, unrechtmäßig nahmen.

Das Beeindruckendste an Morales‘ Tanzperformance „Horses“ ist zweifelsfrei das spannende Bewegungsrepertoire, das sich die Tänzerinnen angeeignet haben. Inspiriert von tatsächlichen Pferdebewegungen, aber stets in vermenschlichter Verzerrung schreiten sie zur live von Thordis M. Meyer am Pult kreierten Musik in rhythmisch-langsamen Nachziehschritten – mal auf den Füßen, mal auf den Knien – über den Bühnenraum, um den herum das Publikum verteilt sitzt. Die Hände, abgewinkelt als Hufe von sich gestreckt, lassen eine Kampfhaltung entstehen, die in manchen Momenten eine Verschmelzung von Pferd und Reiter – der eigentlichen Bedrohung – zu imitieren scheinen. Im Laufe der Zeit werden die Bewegungen intensiver, die Tänzerinnen schlagen nach hinten aus, stampfen auf den Boden, galoppieren, springen und kreischen und jubeln dabei. Nach der anfänglichen Bedrohung, als sich fünf Tänzerinnen in Formation auf die bis dahin drei Tänzerinnen langsam zu bewegen, entsteht in der Wildheit eine selbstermächtigende und sich befreiende Atmosphäre, bis sie schließlich mit einem sich entfernenden Hufgetrappel und einem langsamen Fadeout des Lichts abklingt.

Als weiteres absolutes Highlight bestach die Produktion „Folkstrance“ von Véronique Langlott. Ausgehend von den auf YouTube hierzu meistgeklickten Videos lässt sie norddeutsche und zentralukrainische Volkstänze in Dialog treten und übersetzt die traditionellen Bewegungs- und Inszenierungsmuster in eine neue, hybride und zeitgenössische Darstellungsform.

„Folkstrance“ entstand bereits 2019 während einer Residenz Langlotts am Izolyatsua – Platform for cultural initiatives in Kyiv und wurde 2021 mit Hamburger Künstler*innen weiterentwickelt. Der Abend beginnt mit einem melancholischen ukrainischen Volkslied, das die Live-Musikerin Iryna Lazer noch im Black anstimmt, um danach an ihr Musikpult zu gehen. Die drei Tänzerinnen – gekleidet in silber-glänzende Trainingsanzüge und weiße Turnschuhe – schreiten anschließend durch den vom Publikum in Kreisform gebildeten Bühnenraum und finden allmählich zum sich langsam erweiternden und komplexer werdenden Beat in die ersten Schrittfolgen. In einem steten Wechsel zwischen Ordnung und Unordnung starten sie immer wieder tippend-leichte Drehungen, Sprünge und Platzwechsel und laufen zum Beat, der mittlerweile mit Elektrosounds und Volksgesängen angereichert wurde, gemeinsam im Kreis.

Nach einer kurzen Pause und einem Rhythmuswechsel, der von Iryna Lazer immer wieder klatschend eingeleitet wird, werfen sich die Tänzerinnen von einem Volkstanz in den anderen, wobei als Laie gar nicht auszumachen ist, aus welchem kulturellen Kontext welches Bewegungsmuster stammt. Da gibt es Kreistänze, bei denen sich die Tänzerinnen mit überkreuzenden Schrittfolgen umeinander drehen und eine Tanzform, die durch ihre Beinkicks und den ruhigen Oberkörper vielleicht an Irish Dance erinnern mag. Was dabei niemals aufkommt, ist das Gefühl eines Zitats dieser Volkstänze. Vielmehr entsteht durch die Kombination mit zeitgenössischen Tanztechniken, die sphärisch-rhythmische Musik und die leicht futuristischen Kostüme eine zeitgenössische Atmosphäre, die beim Publikum die im Titel angekündigte Trance hervorruft. Der interessante choreografische Mix im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Ausbrechen sowie Kreation und Dekonstruktion besticht dabei ebenso wie die einnehmende Präsenz und Bewegungsqualität der Tänzerinnen, der immersive Sog der Musik und das spannende Lichtkonzept. Besonders in Erinnerung bleibt hier der äußerst ästhetische Moment, in dem der Bühnenraum mit Schwarzlicht erleuchtet ist und die Neon-Applikationen auf den Silberanzügen die Bewegungen der Tänzerinnen verzerren.  

Mit den Tanzproduktionen „L’Après-midi d’une licorne“, „Horses“ und „Folkstrance“ ist Hauptsache Frei ein beeindruckender Start in das Tanzprogramm seiner achten Festivalausgabe gelungen. Nach diesen drei anregenden, tiefgründigen und unterhaltsamen Abenden kann man nicht anders als sich darauf freuen, was das Programm der zweiten Woche noch zu bieten hat.

Mehr Informationen gibt es auf der Homepage des Festivals 

 

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