„Source of Inspiration“ von Sol Léon & Paul Lightfoot. Tanz: Garance Vignes, Samory Flury und Diego Urdangarin

„Source of Inspiration“ von Sol Léon & Paul Lightfoot. Tanz: Garance Vignes, Samory Flury und Diego Urdangarin 

Lichtsucher

Neuer Ballettabend „From the Night to the Light“ in Oldenburg

Antoine Jully ist ein Künstler, dessen Arbeiten so komplex und variantenreich sind, dass ein einmaliges Zuschauen nicht immer ausreicht, um seine Choreografien zu erfassen.

Oldenburg, 24/10/2023

Antoine Jully ist ein Künstler, dessen Arbeiten so komplex und variantenreich sind, dass ein einmaliges Zuschauen nicht immer ausreicht, um seine Choreografien zu erfassen. Dabei ist er nicht nur seiner eigenen künstlerischen Qualität verpflichtet, sondern auch der tänzerischen Qualität seiner gesamten Compagnie. Zudem spiegeln seine Programme die Themen unserer Zeit wider. Dies aber niemals eindimensional oder plakativ: er bleibt bei seinem hochartifiziellen Stil, unterstützt von einer anspruchsvollen Musikauswahl. Die Programmatik des neuen Ballettabends „From the Night to the Light“ kann im Spiegel ganz persönlicher Ereignisse oder auch im Kontext der allgemeinen Weltlage erlebt werden.

From the Night:

Der Abend beginnt in düsterer Stimmung. In Jullys Ensemble-Choreografie „Weight“ tanzen acht Tänzer*innen in transparenten, schwarzen Kostümen. Der Hintergrund des interessanten Bühnenraums von Takaya Kobayashi – etwas zwischen Urlandschaft und großem Innenraum – birgt eine stilisierte Welle, die sich quer über die gesamte Bühne zieht. Zum Schwimmen einladende Welle oder eher drohender Tsunami, der alles unter sich begräbt? Laut Programmheft ist das Stück mit seinen vier Teilen den vier Elementen gewidmet, dies teilt sich allerdings nicht unmittelbar durch den Tanz mit. Es ist eher ein hochvirtuoses Spiel mit der Körperlichkeit: Gewicht und Gegengewicht, Schwerkraft und Leichtigkeit wechseln sich in den verschiedensten Varianten ab. Mal als kämpferisches Mann-Frau-Duo, dann wieder im Verhältnis von Individuum zu Gruppe, die es entweder hochfliegen lässt oder zu Boden drückt. Immer aber zeigt sich ein technisch virtuoser Tanz, die Tänzerinnen tanzen auf Spitze. Zu verschiedenen jazzig anmutenden Gegenwartskompositionen und zu einem Satz aus E. Rautavaaras 4. Sinfonie hat Jully ein wirklich zeitgenössisches Ballett kreiert, das in seiner Vielseitigkeit und Schnelligkeit beeindruckt. Nach diesem ernsten, aber faszinierenden Stück, an dessen Ende ein Tänzer einen Eimer voller roter Glaskugeln über die Bühne kippt, die auf die Zuschauer zurollen und all‘ die vergossenen Tränen dieser Welt symbolisieren, wirkt das Duett „They, Them“ von Regina van Berkel wie eine Befreiung. 

To the Light:

Zum Titel „Lumi“ (Licht, Schnee) des experimentellen Techno-Musikers Vladislav Delay entspinnt sich eine feine Choreografie, die den beiden Protagonisten Teele Ude und Ryan Drobner ungewöhnlich viel Freiheit in der Bewegung lässt. Leichtfüßig gleiten sie über die Tanzfläche, ganz spielerisch werden tanztechnische Elemente wie z.B. Hebungen eingebaut, wie zufällig dreht Drobner in traumhafter Leichtigkeit viele Pirouetten – ein Tanz von vorsichtiger Annäherung und auch von einsamer Glückseligkeit. Die beiden Tänzer wirken wie Lichtsucher und das Licht ist auch in ganz physischem Sinne präsent: über der komplett freigeräumten Bühne sind alle Beleuchtungsrampen, die sonst im Schnürboden verborgen hängen, heruntergefahren. Das interessante Bühnenkonzept stammt von Dietmar Janeck, mit dem van Berkel ständig zusammenarbeitet. Über dem berührenden, zerbrechlichen Pas de deux fahren die Rampen auf- und abwärts, spenden Licht und kommen den beiden Tanzenden manchmal bedrohlich nahe. Das sind Bilder, die enorm assoziativ sind. Die beiden wirken wie zwei glückliche Kinder, die sich in die Großstadt, eine moderne Welt voller Technik verirrt haben. Traumwandlerisch, selbstvergessen, weich fließt dieser Tanz dahin und lässt im Publikum Erleichterung aufsteigen, ja die Hoffnung, dass – bei allen Herausforderungen unserer Zeit – die Urkraft des Lebens weiterfließen wird.

„Monger“

Vom Dunkel eines Angestelltenlebens im Souterrain einer Nobelvilla in das Licht der Befreiung aus der Unterdrückung und Ausnutzung tanzen sich die zehn Tänzer und Tänzerinnen in „Monger“. Diesen Aufstand der Angestellten gegen ihre Dienstherrin, eine im Stück immer wieder angesprochene „Mrs. Margret“, tanzt die Oldenburger Compagnie in einer komprimierten Version eines vormals für die Batsheva Dance Company in 2008 kreierten abendfüllenden Stückes des US-amerikanisch-israelischen Choreografen Barak Marshall. Zu jiddisch-rumänischer Folk- und zu Rockmusik entfaltet sich eine Choreografie, die schnell, witzig und energiegeladen ist, vor allem, wenn der Widerspruchsgeist der Figuren geweckt ist: seien es die Frauen, die sich gegen einseitig männlich konnotierte Verhaltensvorschriften wehren, oder die gesamte Gruppe, die den Aufstand gegen ihre Dienstherrin wagt, um für die eigene Freiheit zu kämpfen. Soziale und philosophische Fragen verbindet Marshall mit seinem Tanz, der manchmal bis ins Skurrile geht und – aller Dynamik zum Trotz – doch etwas zu eindimensional wirkt. Zu einfach die Bewegungen, zu oft im Tutti präsentiert, der Ausdruck zu geradlinig, ohne Zwischentöne – mitreißender Tanz allemal, der auch vom Publikum bejubelt wurde. 

„Source of Inspiration“

Lichtbringer kann auch ein Mensch sein: im vierten Stück „Source of Inspiration“ vom Choreografenpaar Sol Léon und Paul Lightfoot spielt die Inspiration durch den niederländischen Choreografen Hans van Manen eine zentrale Rolle. Das Stück von 2004 ist eine Hommage an den Meister der Neoklassik, die Zusammenarbeit der beiden Choreografen mit ihm eine nicht versiegende Quelle der Inspiration. – Inspiriert dürften auch die Oldenburger Tänzer*innen gewesen sein, eine solche Choreografie tanzen zu dürfen! Das Stück beginnt auch hier im Dunkeln, nur einige Lichtkegel und Streifen erleuchten die drei Tänzer*innen. Die zwei Männer, deren muskulöse Oberkörper stark ausgeleuchtet sind, außen, die Frau steht innen. Es beginnt ein emotionales Solo der Tänzerin, gefolgt von je einem Solo der beiden Tänzer, wobei die straffen Arm-Bewegungen und die virtuos eingesetzte Tanztechnik an die formale Stringenz von van Manen-Balletten erinnert. Dies wird kontrastiert von eruptiven Bewegungen der Frau, die so ihre Gefühle zum Ausdruck bringt. Garance Vignes tanzt mit Eleganz und Ernsthaftigkeit, die beiden männlichen Partner – oft auch im Duett – mit technischer Brillanz und Schnelligkeit. Zur Musik von Philip Glass entspinnt sich eine Choreografie von großer Intensität: weiche Übergänge wechseln sich mit explosionsartigen Sprüngen und Drehungen ab, Hebungen fließen nahtlos in emotionale Sequenzen ein – die Drei tanzen sich die Seele aus dem Leib! Samory Flury – nach langer Verletzungspause zurück im Team – und Diego Urdangarin geben ein starkes Männer-Duo ab, Garance Vignes überzeugt mit einer wunderbaren Flexibilität. Man kann sagen, dass die Tänzer durch diese Arbeit in ihrem künstlerischen Niveau um eine Etage nach oben befördert wurden. Klatschnass geschwitzt und glücklich stehen sie am Ende da und ernten unzählige Bravo-Rufe für ihren Tanz.

Es ist schön, dass es noch solche Kompanien gibt, die in der Lage sind vom Spitzentanz über moderne Bewegungssprachen bis hin zu zeitgenössischem Tanz alles zu tanzen und dies mit Freude und Leidenschaft! Und dass es noch Ballettdirektoren gibt mit einem untrüglichen Gespür für Tanzqualität und für das, was eine zeitgemäße Kompanie ausmacht: Vielseitigkeit. Der Abend: ein Lichtblick!

 

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