„GOLA 4th movement“ von Reut Shemesh

Und immer wieder Aufstellung

Reut Shemeshs „GOLA 4th movement“ peitscht mit vier Fahnen die Luft im Bonner Theater im Ballsaal aus und lässt dabei identitätspolitische Fragen aufwirbeln

Ein Tanzabend, der das Potenzial von versteckten Ideologien hinter zeremoniellen Choreografien enthüllt und das Publikum beim Beobachten von Bewegung unbemerkt in eine politische Bewegung mit einhüllt

Bonn, 14/05/2023

Großer Auftritt durch eine kleine Tür. Vier Performer*innen treten in den stillen Raum. In der einen Hand der Fahnenstock, in der anderen eine Trinkflasche. Ein Indiz für das Publikum, dass die Performer*innen wohl für eine Stunde an ihre körperlichen Grenzen gehen werden. Im Verlauf des Stücks wird sich die Frage stellen: Für wen? Jedenfalls wissen sie, dass sie beobachtet werden, sitzen die Zuschauer*innen nicht nur auf der Tribüne, sondern auch links und rechts von ihnen auf Bänken. Letzte individuelle Vorbereitungen werden getroffen, die Konzentration im Raum ist spürbar, es wird ernst. Entschlossen treten sie gemeinsam auf die weiße quadratische Fläche: Aufstellung!

GOLA (hebräisch für Diaspora) ist der vierte Teil einer Serie, in der sich die in Israel aufgewachsene Choreografin Reut Shemesh kritisch mit nationalen Zeremonien ihrer Heimat auseinandersetzt. Ich blicke in die Gesichter der anderen Zuschauer*innen und frage mich, welchen Bezug die einzelnen Personen zu nationalen Feierlichkeiten haben, fest davon überzeugt, selbst noch nie Teil davon gewesen zu sein. Plötzlich durchbricht ein fast unerträglicher Lärm die Stille; ein Tänzer schwenkt mit voller Kraft seine Fahne. Der zart anmutende Stoff bekommt eine radikale Symbolkraft. Einen Moment später berührt der eiskalte Windhauch meine Haut. Der weiße Tanzboden wird zur Projektionsfläche für Erinnerungen an Momente, als ich voller Stolz eine Fahne für eine Mannschaft, Community oder Nation geschwenkt habe. Das Geräusch hallt immer noch nach.

 Die schwarzen Muster auf den Fahnen lassen keine präzise Einordnung zu, aber stellen den Eindruck her, dass die Tänzer*innen verbündet unter der gleichen Flagge stehen. Immer wieder scheinen die Bewegungen der Fahnenchoreografie gleichgeschaltet zu werden, ohne jemals die Sehnsucht nach Synchronität erfüllen zu wollen. Auf engstem Raum werden die Fahnen mit einer unbändigen Ernsthaftigkeit bewegt, wirbeln umeinander herum, ohne sich jemals zu berühren, einer präzisen Ordnung unterwiesen. Alle Hände voll zu tun, für eine höhere Überzeugung den Stoff als Akt der Zugehörigkeit in Bewegung zu halten, bleibt keine Hand mehr frei, um wirklich in Kontakt zu kommen. Nur noch Blicke können Nähe herstellen: Wie verbindend ist Nationalstolz wirklich?

Der Abend entwickelt sich zu einem anstrengenden An- und Abschwellen von Energie. Gerade noch ausschließlich dem Sound der Fahnen gefolgt, zwingt ein monotoner Beat die Körper zu reagieren, gemeinsam in denselben Rhythmus einzusteigen, bis auch die letzte Person im gleichen Takt marschiert. Der Raum wird heiß, sehnt sich von den Fahnenbewegungen abgekühlt zu werden. Aber an Pause ist nicht zu denken, es muss jetzt für eine mögliche gemeinsame Identität eingestanden werden. Eng in einem Klumpen verbunden, feuern sie sich gegenseitig an, mitgeklatscht sollte die Bewegung müder werden, sogar gelacht wird miteinander, als hätten sie wirklich empfunden Spaß bei der Feierlichkeit. Offensichtlich lässt es sich leichter für eine Ideologie eintreten, wenn man sich gemeinsam in andere Temperaturen stampft, beinahe für sie brennt. Irgendwann kommen kurze gerufene Anweisungen dazu, welche die Körper militärisch in ein anderes System überführen. Schreiben sich politische Systeme in unseren Körpern ein und werden die individuellen Bewegungen davon beeinflusst?

Und immer wieder Pausen. Auf dem schwarzen Boden werden Fakten wie Anstrengung und Schweiß ersichtlich messbar, obwohl der weiße Boden sie zu verhüllen versucht. Während Wasserflaschen als liebevolle Zuneigung, kennt man doch den Schmerz des anderen, sich gegenseitig zugerollt werden, wird der Fahnenstoff als Handtuch benutzt, um sich die Anstrengung vom Körper abzutupfen. Doch es besteht die Gefahr, sich darin zu verheddern oder sogar zu verlieren, seine eigenen Bedürfnisse zu vergessen. Sie betreten wieder einmal die Fläche. Mit Widerwillen, das verrät ihr Gesicht. Ein weiteres Mal müssen sie sich aufopfern. Ich sehe, sie wollen nicht mehr. Ich auch nicht. Wenn sie das für mich machen, dann will ich, dass sie sofort aufhören. Ich verkrafte das nicht mehr. Will sie in den Fahnenstoff einhüllen und schlafen legen.

Ein Moment des Nachspürens in Form eines Halbkreises. Nebeneinander stehen die vier Tänzer*innen, vereinzelt mit geschlossenen Augen, und mimen gemeinsam die Töne einer Sirene. Es ist der Klang mit dem die offizielle Gedenkfeier an gefallene Soldat*innen für den Staat Israel beginnt. Im ganzen Land bleiben Menschen stehen, steigen aus ihren Autos auf Autobahnen, halten inne. Würde die Sirene in diesen Tagen erklingen, würde wohl eher jede Person um ihr Leben rennen.

Die Tänzer*innen kommen immer wieder ganz nah mit der Fahne, bis sie uns berührt, fast um den Finger wickelt und uns verführerisch das Gefühl gibt, Teil der Gemeinschaft zu sein. Manchen wird angeboten, die Fahne zu halten, niemand von ihnen lehnt ab, alle werden Teil der Bewegung. Und dann wieder einmal Aufstellung. Der Raum ist doch schon müde. Es ist endlos. Black. Von draußen dringt friedliches Vogelgezwitscher in den dunklen Saal.

 

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