Olga Labovkina „Jagen“

Olga Labovkina inszeniert „Jagen“ mit Tanz Harz

Getriebene Seelen rennen gegen Wände

Zu einer kratzigen Angelegenheit wird das Tanzstück „Jagen“, das von Olga Labovkina jetzt mit dem Ensemble „Tanz Harz“ auf die Bühne gebracht wird.

Halberstadt, 20/10/2023

Aus welchen Brunnen schöpft die Kunst, was gibt der Choreografin Olga Labovkina Inspiration für ihr „Jagen“, das ihr Publikum in Halberstadt für 57 – fast rauschhaft die Akteure bewegende – Minuten hineinzieht in eine Welt, in der sich eine einzigartige Körpersprache zu Bildern fügt? Vor und hinter dem Licht, zwischen sich öffnenden Türen und ummantelt von kratzigem Stoff, in Düsternis und mager durchscheinend, wachsen die Licht- und Schattengewächse, selten zart und klar, aber oft verzerrt in Aktion, hektisch, fast atemlos in den dauernden Bewegungen ausufernd. 

All das fordert die Premieren-Besetzung– die neu engagierte Alessia Ricci, Caterina Cerolini, Ting-En Chiang, Lukas Ziegele, Michele Carnimeo, Cristian Colatriano – bis an körperliche Grenzen. Sie wirken wie auf der Flucht vor imaginären Jägern, gehetzt und immer wieder ihre Rolle neu definierend, die keine Name hat. Nur sehr sparsam hebt sich jemand durch ein ausgefeiltes Solo aus der dauerbewegten Gruppe heraus. Sie alle gehören zur Meute in einem schweißtreibenden Verfolgungsreigen, der zuweilen von einer in die nächsten Tanzstory übergeht. Labovkina hat sich vom 1953er Drama „Hexenjagd“ von Arthur Miller anregen lassen, ohne dieses doppeldeutige „Jagen“ für eine Ära 70 Jahre später neu zu definieren. 

Ihre Ausstatterin Katharina Andes setzt mit ihrer karg anmutenden Bühnengestaltung als optische Stimmungssammlerin die gleichen kräftigen Akzente wie die Tanzsprache ihrer belorussischen Choreografin. Zwei Mäntel, Größe 3XL, wachsen dabei zu variablen Bühnenraummomenten, die fast übermächtig die Handlung tragen. Filzig-kratzige „Pferdedecken“ fliegen über die Bühne, alle Akteure schlüpfen in sie, gleiten aus ihnen, wechseln behände die Trageweise, machen schützende Ummantelungen aus ihnen, lassen durch sie Bindungen erkennen und man möchte sich bis in die Zuschauerreihen intensiv die Haut schubbeln ob des verbreiteten Juckreizes. 

Diese hechelnd getriebenen Seelen offenbaren ihre Phobien und malen ihre Alpträume in der ausdrucksstarken Bildsprache zeitgenössischen Tanz. Sie rennen in diesem Hasten immer wieder gegen Wände, scheinen an ihnen kleben zu bleiben, lösen sich und werden entfernt und tauchen sofort wieder in der Gruppe ab, um energiegeladen mit neue gewonnener Explosivität neu zu starten. Dabei entlädt sich temporeich ein Schwall an Emotionen auf einem dunklen Bühnenparcours, der gelegentlich seine Farbe wechselt, um mehr aus den menschliche Abgründe auf die Kammerbühne zu schütten. Olga Labovkina formt aus ihrer Compagnie immer wieder „Menschenbilder“, die kurze Halbwertzeiten haben, entstehen, verharren, zerbrechen und sich neu fügen.

Mystisch, fast gruselig, wirken zuweilen die drei Tänzerinnen und Tänzer, Getriebene sind sie, die mit Realitätsfetzen jonglieren, Geschichten-Erzähler jedoch nie. Ihr Klopfen an den Häuserwänden gleicht mehr einem Ab- als gastfreundschaftlichem Anklopfen. Der Fokus des Tanzstücks liegt auf dem vergänglichen Moment, nicht auf dem Großen, Ganzen. 

Der Sound des Künstlerkollektivs Dodóma trägt das Sextett, legt ihnen pulsierenden Klang auf den Tanzteppich; das Schaben an Häuserwänden mischt sich mit schroffen Tönen und elektroakustischen Effekten, oszillierende Klänge mit spät einsetzenden Piano-Melodik.

In der Halberstädter Kammerbühne tost der Beifall vom Premierenpublikum, als sich die Tanzkünstlerinnen immer wieder verneigen. Das Inszenierungsteam schickt beste Grüße, weil es schon wieder auf anderen europäischen Bühne Tanztheater probt.

Das Tanzstück „Jagen“ wird im Projekt „TANZLANDschaft Mitteldeutschland“ der Kulturstiftung des Bundes gefördert und auch in Bernburg aufgeführt.

Uwe Kraus

Der Artikel erschien ursprünglich in der Volksstimme.

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