Erhaben und ekstatisch: Tanz als Gegenwelt
Zum 26. Mal lädt Tarek Assam, seit 2022 Ballettdirektor am Harztheater, zum TanzArt ostwest festival.
Bereits an seinen vorherigen Wirkungsort Gießen hat Tarek Assam unterschiedliche lokale Akteur*innen zusammengebracht, vor allem für die Organisation des TanzArt ostwest-Festivals. 20 Jahre lang hat er so von Gießen aus das auf freiwilligem Engagement beruhende Netzwerk immer weitergesponnen und verschiedenste Menschen eingeladen, ihre Choreografien und Tanztechniken zu präsentieren. Aus der ganzen Welt sind sie gekommen, nun in den Harz, wo in den Städten Halberstadt, Quedlinburg, Wernigerode und Bernburg jeweils eine Gala stattfinden wird.
Der Start war also in Halberstadt, wo es von Freitag bis Sonntag verschiedene Orte zu erleben gab mit dem achtköpfigen Ensemble Tanz Harz plus vier Gästen. Die Eröffnungschoreografie im Dom St. Stephanus und St. Sixus fügte sich dem Ort ein: „Oratio in Danza“, Gebet im Tanz, zu den Seligsprechungen der Bergpredigt, die man im Programmheft nachlesen konnte.
Dazu Musik von Johann Sebastian Bach, drei Suiten für Violoncello solo (BWV 1007-1009). Die anspruchsvollen Stücke werden live gespielt von Jens Herrmann, Mitglied der Harzer Sinfoniker. Er führt eine Stunde lang ununterbrochen den Bogen, jeweils nur kurz pausierend, wenn die Choreografie es verlangt. Absolut staunenswert sind die Ruhe und Gelassenheit, mit der er diese Aufgabe meistert. Die Akustik des Doms fügte natürlich ihren großartigen Anteil bei, um das Solospiel zu einem Hörerlebnis werden zu lassen.
Die Bühne mit dem Tanzboden ist in der Vierung platziert, der steinerne Lettner mit der Kreuzigungsgruppe obendrauf gibt den Bühnenhintergrund. Das Licht schafft eindrucksvoll abwechselnde Atmosphären. Eine Leinwand in der linken Bühnenecke zeigt die Bilder einer Video-Live-Übertragung von hereinkommenden Gästen oder den Tänzer*innen, zumeist aber von dem Cellisten, der dadurch auch für die Zuschauenden in den hinteren Reihen visuell präsent wird. Die Kostüme sind elegant schlicht, weit geschnittene Hosen in Schwarz-, Beige- und Weiß-Tönen, lockere Hemden in unterschiedlichen Schnitten und pro Stück wechselnden Farben. Beim ersten Choreografen Steffen Fuchs sind es apfelgrüne Jacken im China-Style, bei Gianni Cuccara locker fließende blaue Hemden über dem Hosenbund, bei Assam fast streng wirkende weiße Oberhemden in der Hose.
Steffen Fuchs, Ballettdirektor am Theater Koblenz, und Gianni Cuccaro, Leiter der Tanzsparte am Theater Bielefeld, sagten nach Einladung sofort zu bei Tarek Assams ersten Tanzfestival in Halberstadt mitmachen. So konnte das Publikum gleich am Eröffnungsabend drei verschiedene Tanzhandschriften deutscher Stadttheaterchoreografen kennenlernen.
Steffen Fuchs arbeitet neoklassisch, nutzt Bewegungselemente des klassischen Balletts in eigener Anverwandlung. Die Abläufe sind weich und geschmeidig, die Pas-de-Deuxs zeigen einen behutsamen, fast zärtlichen Umgang miteinander. Gianni Cuccaro inszeniert das genaue Gegenteil: einen beinahe ununterbrochenen Bewegungsfluss der Tanzenden, der teils heftig, teils aggressiv ist. Es stechen Szenen heraus, die das Dissing visualisierten, das Peinigen eines Einzelnen durch die Gruppe, wie man daran zugrundegehen kann oder wieder rauskommt.
Tarek Assams Choreografie lebt von Gruppenbildern, die die gesamte Bühnenfläche überziehen und immer mal wieder wie ein Turmbau in die Höhe gehen. Er zerpflückt die Gruppenbewegung in Einzelteile, um sie am Ende in einer bewegten Diagonale wieder zusammenzuführen. Wie bei seinen Choreografien üblich, folgt er für kurze Strecken dem Lauf der Musik, um dann wieder seinen eigenen Bewegungsbogen zu schlagen. Das Publikum, für das zeitgenössischer Tanz zum Gutteil Neuland ist, ließ sich von allen Interpretationen der Bergpredigt-Themas mitreißen und applaudierte begeistert.
Wer wollte, konnte am nächsten Tag einer kleinen Werkschau im Kapitelsaal des Dom-Kreuzgangs beiwohnen und erhielt von Assam eingängige Erklärungen zu den unterschiedlichen tänzerischen Ansätzen und dem Entstehen der Choreografien, anschaulich gemacht mit kleinen Tanzbeispielen durch Ensemblemitglieder.
Am Abend war „Oratio in Danza“ dann nochmals in der Busabstellhalle der örtlichen Verkehrstriebe in Wernigerode zu erleben, quasi verfremdet durch die nüchtern-technische Umgebung; laut Assam der Startschuss für ein neues Profil: Tanz an anderen Orten als der Bühne und dem Theater zu zeigen. Das Besondere daran ist, dass Tanz im öffentlichen Raum die Nahsicht auf die Tänzer*innen ermöglicht. Mimik und Gestik, auch Feinheiten der Choreografie sind neu und anders zu sehen, als es aus der Fernsicht auf die Bühne möglich ist. Das werden auch Harzer Tanzfans in Zukunft zu schätzen wissen.
Das erste TanzArt-Wochenende wurde von einer Foto-Ausstellung im Domschatz-Museum von Halberstadt begleitet. Die Tänzer*innen von Tanz Harz hatten gemeinsam mit dem Tanzfotografen Rolf K. Wegst, der Tareks Arbeit seit Jahren begleitet, die Räume dieses besonderen Museums erkundet. Es folgen zahlreiche internationale Gastspiel und am nächsten Wochenende geht es mit Gala-Aufführungen an verschiedenen Orten weiter.
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