Gala des Deutschen Tanzpreises 2023: Lutz Förster, Jo Ann Endicott, Malou Airaudo, Dominique Mercy

Die phantastischen Vier

Deutscher Tanzpreis 2023 für vier Protagonist*innen des Tanztheaters Wuppertal

Zweifelloses Herzstück der Gala des Deutschen Tanzpreises wird Jo-Ann Endicotts Überraschungsauftritt im legendären „Kontakthof“ von 1978, für welchen die Tänzerin nach 45 Jahren in die von ihr im Original kreierte Partie des ‚rosa Mädchens‘ schlüpft und an der Seite ihrer Kolleg*innen der heutigen Generation Zähne bleckt, Hüften schwingt und sich vor allem tief in die Seele blicken lässt – und das betörend schön.

Essen, 16/10/2023

„Jo – keine war wie du. Wirklich keine“, schmetterte Mechthild Großmann mit ihrem unverwechselbar erotisch-rauchigem Timbre ins Mikrofon. Dies ist nur der Anfang der hinreißenden Liebeserklärung – nicht nur Hommage! – der Schauspielerin und langjährigen Kollegin aus dem Tanztheater Wuppertal an die vier Tänzerpersönlichkeiten, die sie alle ganz persönlich und individuell in ihrer Laudatio adressiert, mehr noch sie als Menschen selbst, denn ‚nur‘ ihre Kunst. Womit die kongeniale Großmann keinen Zweifel lässt, „keine und keiner war wie du“, trifft hier wirklich auf jeden Einzelnen der vier geehrten Bühnenkünstler*innen als Schlüsselfiguren des Tanztheaters Wuppertal zu, die „alle so wunderbar anders und einzigartig sind“: Malou Airaudo, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster und Dominique Mercy. Alle vier haben, so heißt es in der Jurybegründung, „kraft ihres bedingungslosen Mitwirkens an einer Tanzästhetik mit bestehenden Konventionen gebrochen und ein neues Denken im und durch den Tanz hervorgebracht.“

„Tanzt, tanzt – sonst sind wir verloren“

Immer ‚mit dabei‘ und vorneweg Pinas Geist – ‚Pina‘ so selbstverständlich verwendet man den Vornamen als wäre sie eine enge Vertraute gewesen, von uns allen, die Tanz lieben und bewundern, als ‚gehöre‘ Pina ein Stück weit jedem von uns. „Ein Stück von Pina“ erklärt Großmann daher auch eindrücklich, meinte und meint tatsächlich ja immer genau das, dieses Doppeldeutige – in jedem Stück von Pina steckt ein ganzes ‚Stück‘ Pina und mit ihr ein Stück jeder Tänzerin und jeden Tänzers, welche dies Bühnenwerk gemeinsam mit ihr erschaffen haben. Jede(r) gab freimütig ein Stück von sich – schenkte sich, machte sich nackt und wunderbar verwundbar. Dass es sich bei Großmanns grandioser Laudatio um eine ganz persönliche Liebeserklärung handelte, war so daher auch kaum anders möglich, wenn es um Pina Bausch, das Tanztheater Wuppertal, deren Tänzer*innen und übergeordnet um die Kunst des Tanztheaters geht: War Pinas Kunst doch immer eine Gemeinschaftsarbeit, Ko-Autorenschaft, künstlerisch verkörpert-bewegte Demokratie, eine Liebeserklärung an ihre Tänzerinnen und Tänzer, die sie liebte wie eigene Kinder.

„Das sind ja alles Perlen, jeder auf seine Weise. Ich kann nur froh und glücklich sein, dass diese Persönlichkeiten mit mir so einen großen Teil ihres Lebens verbringen.“ (Pina Bausch, 2005)

Vergangenheit trifft auf Gegenwart

Etwas zutiefst Symbolhaftes und unwiederholbar Einmaliges schwebte über der diesjährigen Veranstaltung des Deutschen Tanzpreises, denn ein Jubiläum jagte hier das nächste: 50 Jahre Tanztheater Wuppertal galt es dieses Jahr zu zelebrieren, wie zugleich 40 Jahre Deutscher Tanzpreis. Im Jahr 1995 nahm Pina Bausch als die wohl bedeutendste Choreografin hierzulande diese Auszeichnung selbst entgegen, fast 30 Jahre später werden auf derselben Bühne des Aalto Theaters Essen vier ihrer die Kompanie meist prägenden Protagonist*innen ausgezeichnet – als Säulen des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch. Die Ehrung der vier Tänzerpioniere war somit zugleich eine Ehrung an die gesamte Kompanie – wie Lutz Förster, der „Jüngste unter ihnen“, wie Grossmann mit Augenzwinkern hervorhebt, in seiner Danksagung betont: Eine Ehrung an die Kompanie und natürlich immer auch an Pina Bausch, der – so scheint es – die fantastischen Vier ‚alles‘ verdanken – ihr künstlerisches Sein und künstlerisches Leben. Es verwundert daher kaum, dass Pina Bausch ebenso oft in den Danksagungen erwähnt wird, wie die reellen Mütter und Väter, denn eine Art Übermutter ist die Jahrhundertfigur für sie alle gewesen und ist sie offenbar immer noch – nahezu fünfzehn Jahre nach ihrem überraschenden Tod.

Ein Tänzer ist ein Tänzer ... ist ein Tänzer

Dass der Geist Pina Bauschs selbst auf diejenigen übertragbar ist, welche die künstlerisch gewichtige Namensgeberin der Kompanie gar nicht mehr persönlich kannten, wird bei der jungen Tänzergeneration deutlich, dem Nachwuchs des Folkwang Tanzstudios, welche die Bühne beim Gala-Abend nicht nur mit Endicott und Förster teilten, sondern auch mit Mitgliedern der aktuellen Kompanie; diesen wünschte Förster von Herzen „so viel Glück, wie es ihm selbst in seinem Leben geschenkt worden war.“ Von der höchsten Qualität der nachfolgenden Tänzer*innen-Generation des Folkwang Tanzstudios konnte man sich unter anderem in dem frisch-charmanten Stück voll Lebensfreude und Glückshormon überzeugen „... como el musguito en la piedra, ay si, si, si …“ (Wie das Moos auf dem Stein) –  das im Sommer 2009 knapp drei Wochen vor Pina Bauschs Tod uraufgeführt wurde. Für den Galaabend übernahm Thusnelda Mercy, die gemeinsame Tochter von Malou Airaudo und Dominique Mercy, als Gasttänzerin den Solopart wie in der Originalbesetzung.

Folgte bei der Galaveranstaltung am Samstagabend ein Highlight dem anderen, so stellte zweifelloses Herzstück Endicotts Überraschungsauftritt in Pinas legendärem „Kontakthof“ von 1978 dar, für welchen die Tänzerin auf Lebenszeit abermals in die von ihr im Original kreierte Partie des ‚rosa Mädchens‘ schlüpfte und an der Seite ihrer Kolleg*innen der heutigen Generation Zähne bleckte, Hüften schwang und sich vor allem tief in die Seele blicken ließ – und das betörend schön. Kein Stück hätte besser gepasst für diesen Abend, der vor allem den Menschen in seiner Vielfalt und Menschlichkeit feierte und mehr als alles andere vehement an diesen appellierte: Das Menschsein nicht vergessen, wenn es um den Menschen geht! Gerade mit „Kontakthof“ hatte Pina Bausch zu ihrer Zeit auch Menschen von der Kraft ihrer Kunst überzeugen können, die nicht per se ihre Anhänger waren; denn im Rahmen der großartigen Tanzprojekte des Tanztheaters Wuppertal war genau dieses Stück in späteren Jahren mit ‚Jung und Alt‘ einstudiert worden, mit Jugendlichen und Senior*innen, die bislang nichts mit Tanz(kunst) zu tun gehabt hatten. Ganz vorne mit dabei bei diesen anrührenden Bühnenadaptionen wie auch unzähligen Wiedereinstudierungen war über all die Jahre hinweg Endicott gewesen, womit gerade dieses Stück auch abermals wirklich ein ‚Stück‘ von ihr war.

Neben einem Ausschnitt aus „Vollmond“ von 2006, in dem die Tänzer*innen des Tanztheaters Wuppertal einmal mehr ihr superbes tänzerisches Können demonstrieren konnten, raubte auch Förster seinem Publikum den Atem mit dem von ihm selbst kreierten Solo „The Man I Love“ aus dem Pina Bausch Klassiker „Nelken“ von 1982, das sich aus Gesten der Gebärdensprache zusammensetzt und unter Förster zur Bühnenkunst in Reinform gedeiht. Auch dies Solo war geradewegs ideal für den Abend gewählt worden, der auch im Zeichen der Menschlichkeit und Inklusion stand. Einmal mehr wurde hier bewusst, wie weit Pina Bausch ihrer Zeit voraus war, indem sie immer Stücke kreiert hatte, die alle Sinne ansprachen und daher als inklusiv verstanden werden können oder müssen: den Sinnen des Sehens, Hörens, Riechens, Tastens – und mehr als alles andere, dem Sinn des Herzens – hierin verstand sich Pina Bausch wie wenige andere Choreograf*innen der gesamten Tanzgeschichte:  Ich choreografiere nicht von vorne nach hinten, sondern von innen nach außen – womit sich die große Künstlerin direkt ins Herz des Publikums einschrieb. Damals, vor 50 Jahren, wie heute, im Jahr 2023. Und mehr denn je brauchen wir  davon in diesen Tagen unserer Gegenwart: Tanz – denn sonst sind wir in der Tat verloren!

 

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