Zurück in Berlin
Ein Interview mit Johannes Wieland zum Arbeiten in der freien Szene und am Stadttheater, zu Berlin und Kassel und Projekten weltweit
Eigentlich bleibt dem staunenden Zuschauer, der von Kaskaden einströmender Denk-Anstöße elektrisiert wird und unwillkürlich im eigenen Körper ausgelöste Déjà-vus spürt, nach den 75 Minuten „Neuzeit“ im Musiktheater Linz nur eines übrig: Wiederkommen und weiterdenken. Der Berliner Regisseur und Choreograf Johannes Wieland fordert in dem spannenden dreiteiligen Tanz-Theater-Bild-Stück zum Thema Zeitvermessung rückhaltlose und facettenreiche Intensitätsskalen, nicht nur von den 12 mitreißenden Tänzer*innen, allen voran Lorenzo Ruta und Angelica Mattiazzi, sondern auch von dem fein integrierten Schauspieler Horst Heiss sowie ausgesuchten Statist*innen. Er schickt diese vehement ins Publikum, gleich der Überlebensfrage „Wie geht es uns, jetzt?“ angesichts der vielfältigen Katastrophen, wohl auch postpandemisch.
Das nimmt unten Teil an der Jagd nach dem scheinbaren Phänomen Zeit, während die Menschen oben in schicker hellbrauner Kleidung von heute (Angelika Rieck) im Abschnitt „Der zeitlose Raum“ existenzielle Gefühls- und Verhaltensstadien durchmachen, um immer wieder einzuhalten. Aggression, Schärfe wechseln mit Sehnsucht, Weichheit in einer ungestümen Sprache, als müsste man die volle U-Bahn noch erreichen um ein Teilchen von Vielen in dieser Zeit- und Geschichtsspirale zu werden. Links und rechts vorne ist je ein/e Golfspieler*in auf grünem Rasen positioniert. Sie warten, den Schläger gezückt, bis zum dritten Teil, genannt „Der Moment“, bei dem der Ausgang offen bleibt.
Das bühnentechnisch hervorragend ausgestattete Musiktheater versteht Gastchoreograf Wieland, der viele Jahre das Staatstheater Kassel prägte, theateraffin und präzise zu nutzen. Die eindringlichen Hilfsmittel, darunter auch die vielschichtige musikalische Gestaltung von Donato Deliano, die Zeitdimensionen hörbar macht, befördern das solcherart angeworfene Denken und Fühlen über diese künstlerisch komponierten Fall-Studien zur Veränderlichkeit des Menschen in Sein und Zeit. Die Zuschauenden erleben einen anschaulich fließenden Kommentar zur Zeit-Wahrnehmung und dem nicht nur durch die Covid-Pandemie radikal aus der gewohnten Einteilung geworfenen Menschen. Eine Rückkehr zu einem Davor gibt es nicht. Frau und Mann stehen einander am Ende mit weit aufgerissenen Mündern in kämpferischer, aggressiver Haltung gegenüber. Angriff und Verteidigung sind eingeübt.
Als die Natur noch in scheinbarer Ordnung war: Mit diesem Bild des Paradieses mit Adam und Eva hinter „Glas“ (Bühne: Momme Röhrbein) markiert Wieland den Beginn seiner Erzählung. Er nennt den Teil „Die Vergangenheit – und Zukunft“. Weit, weit davon weggekommen sind wir, auch wenn es noch in der Bühnen-Ferne Altvordere gibt, die einen grünen Zweig tragen. Später sind es gecrashte Autos, die von Zerstörung künden.
Man mag „Neuzeit“ als in viele Richtungen interpretierbaren Aufruf nehmen, vor Allem aber im besten Sinne zu seinen Sinnen zu kommen. Weil wir alle wissen, was da zerläuft.
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